Die Rückwirkungsklausel der JUSO-Zukunftsinitiative

Von Johann-Jakob Chervet

 

«Retrospective laws are highly injurious, oppressive, and unjust. No such laws, therefore, should be made, either for the decision of civil causes, or the punishment of offenses.»

Art. 23 Constitution of the State of New Hampshire.

 

«La loi ne dispose que pour l’avenir ; elle n’a point d’effet rétroactif.»

Art. 2 Code Napoléon.

 

Am 8. Februar 2024 reichten die Jungsozialist*innen Schweiz (JUSO) die eidgenössische Volksinitiative «Für eine soziale Klimapolitik – steuerlich gerecht finanziert (Initiative für eine Zukunft; «Zukunftsinitiative»)» ein, welche mit 109’988 gültigen Unterschriften formell zustande gekommen ist. Die Initiative sieht die Einführung einer Steuer von 50 % auf Erbschaften und Schenkungen über einem einmaligen Freibetrag von 50 Million Franken vor (Abs. 1 und 4). Der Rohertrag dieser Steuer soll «zur sozial gerechten Bekämpfung der Klimakrise sowie für den dafür notwendigen Umbau der Gesamtwirtschaft» verwendet werden (Abs. 2). Parallel dazu könnten die Kantone nach wie vor eigenständige Erbschafts- und Schenkungssteuern erheben (Abs. 3).

Von besonderem Interesse an der Initiative sind deren Ausführungsbestimmungen: Einerseits sollen Bund und Kantone Regelungen zur Unterbindung der Steuervermeidung erlassen, «insbesondere in Bezug auf den Wegzug aus der Schweiz, die Pflicht zur Aufzeichnung von Schenkungen und die lückenlose Besteuerung» (Abs. 1 Ziff. 1 Übergangsbestimmung). Andererseits sollen Vorschriften zu Verwendung der Gelder im Sinne eines «sozial gerechten, ökologischen Umbaus der Gesamtwirtschaft» ausformuliert werden (Abs. 1 Ziff. 2 Übergangsbestimmung). Bis diese Bestimmungen per regulärem Gesetz eingeführt worden sind, wird der Bundesrat verpflichtet, sie in einer Verordnung umzusetzen, wofür ihm eine Frist von drei Jahren nach Annahme der Initiative gewährt wird. Schliesslich wird festgelegt, dass diese Ausführungsregelungen «auf Nachlässe und Schenkungen, die nach der Annahme [der Volksinitiative] ausgerichtet werden, rückwirkend Anwendung» finden (Abs. 2 Übergangsbestimmung).

Somit will die Initiative eine Steuer einführen, die an sich zwar erst nach ihrer Annahme durch Volk und Stände operativ wird, deren rechtlichem Gerüst jedoch eine Rückwirkung zukommen soll. Die Folge ist, dass entscheidende Bestimmungen zur Administration der vorgesehenen Erbschafts- und Schenkungssteuer auf Sachverhalte angewendet werden müssten, die sich vor ihrem Inkrafttreten abspielten. Nachfolgend werden zuerst die Vorschläge aus der Politik zum Umgang mit diesem Volksbegehren rekapituliert. Im Anschluss daran wird die tiefgreifende Gefahr der Rückwirkungsklausel der JUSO-Initiative für die Schweizer Verfassungsordnung beleuchtet.

 

Warnungen aus der Wirtschaft; Vorstösse aus der Politik

Anhand der Höhe des vorgesehenen Steuersatzes bringen Schweizer Industriekapitäne beinahe im Tagestakt zum Ausdruck, dass das Vorhaben sie zum Wegzug zwingen könnte. Auch die Zulässigkeit der Initiative wird intensiv diskutiert. Nationalrat Hans-Peter Portmann sowie die Ständeräte Erich Ettlin, Werner Salzmann und Benedikt Würth werfen etwa die Möglichkeit einer zumindest teilweisen Ungültigkeitserklärung der Initiative in den Raum (siehe hier, hier und hier). Und mit Ständerätin Franziska Roth erwägt auch eine führende SP-Politikerin eine Teilungültigkeit.

Der Grund für diese resolute Reaktion liegt in der Rückwirkungsklausel, die Portmann als «Eingriff in fundamentale Grundrechte» taxiert. Ein ausgebautes Argumentationsmuster für diesen Gedankengang liefert dabei der ehemalige Ständerat Ruedi Noser: Da die Ausführungsbestimmungen bis zum Erlass eines regulären Gesetzes per bundesrätlicher Verordnung implementiert werden sollen, sieht Noser das ordnungsgemässe demokratische Verfahren verletzt. Denn der Umsetzungsprozess von Initiativen solle so strukturiert sein, dass die Beteiligung der Bundesversammlung und – im Rahmen eines allfälligen Referendums – der Stimmbevölkerung sichergestellt wird. Kurz: Die Konkretisierung der Steuer alleine durch den Bundesrat käme einer «Entmachtung» von Parlament und Volk gleich.

Diese demokratietheoretische Rechtfertigung einer Ungültigkeitserklärung kommt nicht von ungefähr, denn Versuche, ein Rückwirkungsverbot für Initiativen einzuführen, wurden in der Vergangenheit mit zwei primären Argumenten abgewehrt:

 

1. Irrelevanz: In der Praxis seien rückwirkende Volksbegehren selten und würden noch seltener angenommen werden (siehe hier). Frei nach Montesquieu: Wenn es nicht notwendig ist, ein weiteres Ungültigkeitskriterium einzuführen, dann ist es notwendig, kein weiteres Ungültigkeitskriterium einzuführen.

2. Beschneidung der Volksrechte: Dieses Argument operiert anhand der Grundannahme, dass in einer direktdemokratischen Verfassungsordnung auch heikle Vorschläge der Abstimmung zugeführt werden sollen: «Volk und Stände, die auch die Konsequenzen der Entscheide tragen müssen, [dürfen] nicht umgangen werden […], wenn nicht die Gefahr entstehen soll, dass sie gefällte Entscheide nicht mehr mittragen.» (BBl 1993 II S. 223)

 

Eine Variation dieser Position präsentierte der damalige Nationalrat Andreas Gross in einer Debatte zu rückwirkenden Volksbegehren in 1995: «Es ist ein Grundsatz der Demokratie, dass immer wieder auf Entscheidungen zurückgekommen werden darf.» (AB 1995 N S. 797). Auch Politiker mit Sympathien für eine Teilungültigkeitserklärung der JUSO-Initiative bezeichnen dementsprechend ein derartiges Vorhaben als «demokratiepolitisch sehr heik[el]».

Die Praxis der Bundesversammlung tendiert denn auch zu einer gewissen Zurückhaltung in der Einhegung direktdemokratischer Partizipationsrechte; ein NZZ-Kommentar brachte diese Haltung folgendermassen auf den Punkt: «im Zweifelsfall zugunsten der Volksrechte.»

 Mit der Proliferation von Rückwirkungsklauseln in Volksinitiativen jüngerer Zeit (insbesondere im Bereich des Steuerrechts; siehe etwa hier) verliert Argument Nr. 1 zusehends an Bedeutung. Und da bereits die Aussicht auf rückwirkende Gesetzgebung zu grosser Rechtsunsicherheit führen kann, ist auch das widerholte Ablehnen derartiger Begehren durch Volk und Stände kein Vertrauensgarant. Somit bleibt Argument Nr. 2, welches Noser nun zu kontern versucht: Nicht die Teilungültigkeitserklärung sei ein Verstoss gegen die Prinzipien der Schweizer Demokratie, sondern die Umsetzung mittels Verordnung der Exekutive. Kritiker eines derartigen Vorgehens monieren, dass eine Erweiterung des Ungültigkeitskatalogs nur mittels Verfassungsänderung erreicht werden könnte und nicht auf ad-hoc Basis in Bezug auf bestimmte Volksbegehren (so etwa Ständerat Andrea Caroni). Noser versucht diesen Bedenken dahingehend entgegenzukommen, dass er seine vorgeschlagenen Regeln für alle künftigen Initiativen anwenden will. Ob sich dieses Argument durchsetzt, bleibt abzuwarten.

Nosers Vorstoss reiht sich derweil in eine lange Reihe von Versuchen ein, die Rückwirkungsfrage einer grundsätzlichen Lösung zuzuführen. Neben mehreren parlamentarischen Debatten und Vorstössen forderte in letzter Zeit auch Avenir Suisse in einem Grundsatzpapier, ein explizites Verbot von «[r]ückwirkende[n] Änderungen von Rechtsgrundlagen» einzuführen. Als Vorbild dafür könnte die Kantonsverfassung von Graubünden dienen, deren Art. 14 Abs. 1 Ziff. 4 bestimmt, dass eine Initiative für ungültig zu erklären ist, sofern sie «eine Rückwirkung vorsieht, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar ist».

Zwei führende Steuerrechtsexperten argumentieren schliesslich, dass das Rechtsunsicherheitspotential der drohenden Rückwirkung mittels einer proaktiven Stellungnahme des Bundesrates entschärft werden könnte. Konkret solle dieser so schnell wie möglich bekannt geben, wie er die Initiative im Falle der Annahme umzusetzen gedenke. Dabei soll der Bundesrat auch klar machen, dass es zu keiner Wegzugssteuer kommen wird. Diese Grundüberlegung wird mittlerweile auch in der Wirtschaftspresse vermehrt vertreten (siehe hier und hier).

Ob diese Versuche, der Rückwirkungsbestimmung der Initiative auf rechtlicher und institutioneller Ebene entgegenzutreten, fruchten werden, ist kaum abzuschätzen. Die Chancen, dass die von der JUSO vorgesehene Regelung zu einer politischen Belastung wird, sind hingegen erheblich: Der Bundesrat brachte in diesem Sinne bereits 2011 vor, dass «Rückwirkungsklauseln gute Argumente für die Ablehnung einer Initiative» seien.

Verfassungsrechtler unterscheiden häufig zwischen den Konzepten einer «rechtlichen» und einer «politischen» Verfassung (siehe etwa hier). Während erstere den Schutz individueller Rechte in Verfassungsnormen und gerichtlicher Kontrolle sucht, legt letztere diese Aufgabe in die Hände der Bevölkerung im Rahmen des Wahl- und Abstimmungsprozesses. Insbesondere in Hinsicht auf das Instrument der Volksinitiative mit ihrem schlanken Ungültigkeitskatalog verfügt die Schweizer Verfassung über starke «politische» Attribute: Die primären Garanten für den Erhalt von Rechtsstaatlichkeit und individuellen Rechten sind in diesem Kontext also das Volk und die Stände. Doch für diesen politischen Prozess ist es entscheidend, dass die Rückwirkungsfrage im Abstimmungskampf in ihrer vollen Komplexität beleuchtet wird. Die folgenden Eckpunkte sollen einen ersten Anstoss dafür bieten:

 

Rückwirkungen in der Schweizer Verfassungsordnung

Während diverse Kantonsverfassungen rückwirkende Gesetzgebung entweder direkt verbieten (Art. 8 Abs. 2 Verfassung des Kantons Appenzell A.Rh.: «Rückwirkende Erlasse sind nicht zulässig.») oder zumindest einschränken (§ 4 Abs. 1 Verfassung des Kantons Thurgau: «Rückwirkende Erlasse dürfen den Einzelnen nicht zusätzlich belasten.»; § 24 Abs. 1 Verfassung des Kantons Aargau), äussert sich die Schweizer Bundesverfassung (BV) nicht in expliziter sowie grundsätzlicher Art und Weise zu der Frage (eine rechtsgebietsspezifische Regelung findet sich in den Art. 1 f. des Strafgesetzbuchs [StGB], denen Verfassungsrang zugestanden wird).

Die Schweizer Bundesrechtsprechung erlaubt retroaktive Rechtssetzung und -anwendung unter gewissen Voraussetzungen. In einem primären Schritt wird zwischen echter und unechter Rückwirkung unterschieden. Erstere liegt vor, wenn eine Norm auf einen Sachverhalt Anwendung findet, der vor ihrem Inkrafttreten seinen Abschluss fand. Bei Letzterer wird auf Umstände eingewirkt, die ihren Ursprung in einer altrechtlichen Bestimmung fanden, aber nach wie vor andauern (siehe zum ganzen BGE 146 V 364, E. 7.1).

Das Bundesgericht erachtet echte Rückwirkungen für zulässig, sofern sie:

 

  1. auf einer expliziten gesetzlichen Grundlage basieren;
  2. in zeitlicher Hinsicht «in einem vernünftigen Rahmen» beschränkt sind;
  3. keine «stossenden Ungleichheiten» auslösen;
  4. ein «schutzwürdiges öffentliches Interesse» befördern und
  5. «wohlerworbene Rechte» nicht tangieren (BGE 148 V 70, E. 5.3.2).

 

Unechten Rückwirkungen steht die Verfassung im Kontrast dazu nur dann entgegen, wenn diese wohlerworbene Rechte beeinträchtigen (BGE 146 V 364, E. 7.1).

Die im Fall ihrer Annahme neu in die Verfassung aufgenommenen Übergangsbestimmungen der JUSO-Initiative würden eine Rückwirkung indes ausdrücklich autorisieren und so als lex specialis die regulären verfassungsrechtlichen Protektionen verdrängen. Um die Auswirkungen einer derartigen Derogation auf die schweizerische Verfassungsordnung zu evaluieren, lohnt sich Blick auf die Hintergründe der Rückwirkungsthematik:

 

Rechtsstaat

Am erfolgreichsten war das rechtsstaatlich motivierte Zurückdrängen der rückwirkenden Gesetzgebung bisher im Strafrecht, wo Feuerbachs Maxime nulla poena sine lege (vgl. Art. 1 StGB; Feuerbach Paul Johann Anselm, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, Giessen 1801, § 24) u.a. die nachträgliche Kriminalisierung bereits begangener Akte unterbindet (nulla poena sine lege praevia, Art. 2 StGB). Feuerbach selbst erkannte indes die Notwendigkeit einer rein prospektiven Gesetzgebung auch für andere Rechtsgebiete: «Kein bürgerliches Gesetzbuch kann an dem erworbenen Eigentum Raub oder Diebstahl begehen, denn, ganz gegen Räuber- und Diebssitte, bindet es sich selbst die Hände, um ja nichts zu verderben; es gebietet ja nur für die Zukunft und hat an seiner Spitze das Grundgesetz „Lex non trahitur ad praeteria (das Gesetz wird nicht bezogen auf die Vergangenheit)”. Es kann also schlechterdings nichts nehmen, was man nach den alten Gesetzen schon hat […].» (Feuerbach Paul Johann Anselm, in: Feuerbach Ludwig [Hrsg.], Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, Berlin 1989, S. 166 f.)

Feuerbach formulierte damit bereits in den frühen 1800er Jahren ein Prinzip, das die ihm nachfolgenden Autoritäten der Rechtsstaatstheorie immer wieder betonten: Hayek identifizierte es als Grundpfeiler der Rule of Law, dass die Regierung in all ihren Handlungen gebunden sei durch «rules fixed and announced beforehand» (Hayek F.A., The Road to Serfdom, New York 1944, S. 75). Fuller führte aus, dass rückwirkende Gesetze «every law on the books of some of its significance» berauben (Fuller Lon, Positivism and Fidelity to Law: A Reply to Professor Hart, 71: 4 HLR 1958, S. 651). Im gleichen Sinne kam Raz zum Schluss, dass die Rule of Law verlangt, dass alle Gesetze zukunftsgewandt sind (Raz Joseph, The Authority of Law, Oxford 1979, S. 214). Hertig Randall wiederum verortet eine strikte Verbindung zwischen dem Rückwirkungsverbot und dem Prinzip der «sécurité juridique», welches «un aspect fondamental de l’exigence de légalité» darstellt (Hertig Randall Maya, L’État de droit, une perspective de droit comparé: Suisse, Brüssel 2023, S. 109). Diese Auflistung liesse sich ad infinitum verlängern.

 

Ex post facto

Rückwirkende Rechtssetzung ist indes nicht nur auf konzeptioneller Ebene verpönt, sondern wurde auch in diversen Verfassungen explizit untersagt. Art. 103 Abs. 3 der portugiesischen Verfassung verbietet beispielsweise jegliche Form der retroaktiven Besteuerung. Die US-Verfassung wiederum verbietet sowohl dem Bund als auch den Gliedstaaten den Erlass von «ex post facto laws» (Art. I Sec. 9, 10 US Const.). Bereits 1798 kam der Supreme Court jedoch in seiner Entscheidung im Fall Calder v. Bull zum Schluss, dass diese Bestimmungen lediglich Strafbestimmungen erfassen (Chase J in Calder v. Bull, 3 U.S. [3 Dall.] 386 [1798], S. 391). Es ist daher nicht überraschend, dass US-Gerichte auch rückwirkende Steuern für als grundsätzlich zulässig erachten (Locke v. New Orleans, 71 U.S. [4 Wall.] 172 [1867]; United States v. Carlton, 512 U.S. 26 [1994]). Diese restriktive Auslegung der ex post facto Klauseln stiess jedoch bereits in den Jahrzenten nach ihrer Formulierung auf Kritik (vgl. etwa Johnson J in Satterlee vs. Matthewson, 27 U.S. [2 Pet.] 380 [1829], S. 416, sowie in Appendix No. 1)

In der Tat gibt es solide Anhaltspunkte, dass die Richter in Calder v. Bull einem Missverständnis bzgl. der Definition eines ex post facto law unterlagen. So wird in der Entscheidung auf eine Passage in Blackstones Commentaries on the Laws of England verwiesen, die sich auf retroaktive Strafgesetzgebung bezieht (vgl. Chase J in Calder v. Bull, 3 U.S. [3 Dall.] 386 [1798], S. 391). Dort nimmt Blackstone jedoch keine abschliessende Definition eines ex post facto law vor, sondern veranschaulicht die Thematik lediglich mit einem Beispiel (vgl. Johnson J in Appendix Nr. 1, 27 U.S. [2 Pet.] 681 [1829], S. 684).

Eine schlüssigere Evaluation der Thematik als in Calder v. Bull findet sich in den Überlegungen von Kent CJ in einer Entscheidung im Fall Dash v. Van Kleeck aus 1811 (Dash v. Van Kleeck, 7 [Johns] 477 [1811], S. 500 ff.). Dieser nimmt zuerst eine Analyse der Lage nach römischem Recht vor, welches dem Monarchen noch die Befugnis erteilte, rückwirkende Gesetze zu erlassen, denn «the will of the prince, under the despotism of the Roman emperors, was paramount to every obligation» (ebd., S. 504 f.). Die Situation unter der US-Verfassung sei jedoch zum Glück eine andere, stellte er im Anschluss fest; mit dem Ergebnis, dass jegliche retroaktive Rechtssetzung untersagt sei: «With us, the power of the lawgiver is limited and defined […]. Our constitutions do not admit the power assumed by the Roman prince; and the principle we are considering is now to be regarded as sacred.»

(Ebd., S. 505).

 

Rechtssatz

Die Überlegungen von Kent CJ gingen über den spezifischen verfassungsrechtlichen Kontext der USA hinaus. So stellte er nach einer feinsäuberlichen Untersuchung die These auf, dass rückwirkende Gesetzgebung mit dem Konzept des Rechts an sich unvereinbar ist: «The very essence of a new law is a rule for future cases» (ebd., S. 502). Kent CJ reihte sich damit in die Tradition von Blackstone ein, der das Recht im Sinne einer präskriptiven Regel («a rule prescribed») verstand. Auf dieser Grundlage kam Blackstone zum Schluss, dass «all laws should be therefore made to commence in futuro […]».

Im Schweizer Kontext verlangt Art. 5 Abs. 1 BV nach der bundesgerichtlichen Formulierung u.a., dass «sich staatliches Handeln auf Rechtssätze» stützt (BGE 130 I 388, E. 4). Während Fleiner noch 1928 davon ausging, dass «sich jeder neue Rechtssatz rückwirkende Kraft beilegen» könne, ist mittlerweile zumindest grundsätzlich akzeptiert, dass Rechtssätze «für die zur Zeit ihrer Geltung sich ereignenden Sachverhalte» wirken (die einflussreiche Formulierung stammt von Kölz Alfred, Intertemporales Verwaltungsrecht, 102 ZSR 1983, S. 160; vgl. auch Griffel Alain, Intertemporales Recht aus dem Blickwinkel des Verwaltungsrechts, in: Uhlmann Felix (Hrsg.), Intertemporales Recht aus dem Blickwinkel der Rechtsetzungslehre und des Verwaltungsrechts, S. 9).

Die präskriptive, zukunftsgerichtete Natur von Rechtssätzen beruht auf einem grundsätzlichen Respekt gegenüber dem Individuum und seiner Autonomie: Wie Fuller darlegte, basiert das Unterfangen, menschliches Verhalten einer Rechtsordnung zu unterwerfen, auf dem Bekenntnis, den Einzelnen als verantwortungsbewussten Akteur zu verstehen, der fähig ist, Regeln zu verstehen und zu befolgen (Fuller Lon, The Morality of Law, New Haven/London 1963, S. 162). Im gleichen Tenor argumentierte Raz, dass die Respektierung der Würde des Menschen, die Achtung seines Rechts voraussetzt, seine Zukunft zu planen (Raz, a.a.O., S. 221). Den Einzelnen rückwirkenden Gesetzen zu unterwerfen, würde dementsprechend eine gesellschaftliche «indifference to his powers of self-determination» zum Ausdruck bringen (Fuller, The Morality of Law, a.a.O., S. 162). Der Grund ist einfach: Derartige Gesetzgebung verweigert es den Rechtsunterworfenen, ihr Verhalten an die gemachten Vorgaben anzupassen, weil sich der erfasste Sachverhalt bereits abgespielt hat. Kurz: Der Einzelne wird vom Subjekt zum Objekt des Rechts.

Eine rückwirkende Regel ist dementsprechend ein «oxymoron, for it cannot be followed» (vgl. Tamanaha Brian, On the Rule of Law, Cambridge 2004, S. 97). Einer der Delegierten an der amerikanischen Verfassungskonvention von 1787 sah es ähnlich. Da retroaktive Gesetzgebung bereits anhand ihrer Struktur dem Rechtssatzbegriff nicht zugänglich sei, sei es auch unnötig, sie explizit zu verbieten: «[T]here was no lawyer, no civilian who would not say that ex post facto laws were void of themselves.» (siehe hier.)

 

Schlussfolgerungen

Damit ist die Rückwirkung der in der JUSO-Initiative vorgesehenen Ausführungsbestimmungen weder mit dem Rechtsstaatsprinzip noch mit dem Konzept des Rechts an sich vereinbar. Mit einer Akzeptanz von rückwirkendem Steuerrecht droht die Schweizer Rechtsentwicklung hinter jenes Prinzip zurückzufallen, das Kent CJ schon vor über 200 Jahren aufgestellt hat:

«[T]here is no distinction in principle, nor any recognized in practice, between a law punishing a person criminally, for a past innocent act, or punishing him civilly by divesting him of a lawfully acquired right. The distinction consists only in the degree of the oppression, and history teaches us that the government which can deliberately violate the one right, soon ceases to regard the other.» (Kent CJ in Dash v. Van Kleeck, 7 [Johns] 477 [1811], S. 506).

 

 

Johann-Jakob Chervet studierte an den Universitäten Fribourg (BLaw; MLaw) sowie Oxford (MJur) und arbeitet zur Zeit an einer Dissertation zu einem Thema an der Schnittstelle zwischen Verfassungs- und Kartellrecht. Seine Masterarbeit (Kurzfassung) erhielt den ACCL Master Award sowie den Prix d’excellence NKF.