Ein in der “Frankfurter Allgemeinen” (FAZ) erschienener Artikel mit der Aussage, ein Teil der schwer gewalttätigen, straffälligen Jugendlichen sei “erzieherisch nicht mehr erreichbar”‘, hat uns veranlasst, uns an einen erfahrenen Praktiker der Offenen Jugendarbeit in der Schweiz zu wenden. Hier seine Einschätzungen bezüglich Jugendgewalt und Jugendstrafrecht.

Argumente gegen eine Verschärfung des Jugendstrafrechts

Von Marco Bezjak

 

Die aktuelle Kriminalstatistik zeigt, dass von Jugendlichen ausgeübte Gewalt in den letzten Jahren zunimmt. Es werden Rufe nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts laut. Aus Sicht der Offenen Jugendarbeit ist diese Reaktion auf die leicht erhöhten Zahlen unangemessen.

Der Eindruck, die sogenannte Jugendgewalt habe zugenommen, beschäftigt Medien und Fachwelt gleichermassen. Auch an der Fachtagung Jugendgewalt des Schweizer Instituts für Gewaltfragen im vergangenen Juli gab die Kriminalstatistik der Polizei zu reden. Prof. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW, ordnete die jüngsten Zahlen in seinem Referat jedoch anders ein als die Presse.

Für seine Einschätzung zieht er die Verurteiltenzahlen herbei, die ein verlässlicheres Bild als die vielzitierten Beschuldigtenzahlen der Kriminalstatistik abgeben. Zwar hätten sich auch diese Zahlen leicht erhöht, sagt er. Die Erhöhung sei jedoch vor allem dann auffällig, wenn man, wie in den meisten Veröffentlichungen, als Referenzjahr 2015 wähle. 2010 seien die Zahlen jedoch doppelt so hoch gewesen. Betrachte man die Zahlen ausserdem im Kontext der Bevölkerungszunahme, müsse man von einer Stabilisierung sprechen.

 

Opfer und Täter zugleich

Für die Offene Jugendarbeit sind andere Aspekte des Phänomens Jugendgewalt jedoch mindestens so wichtig wie die nackten Zahlen. Jugendliche üben nicht nur Gewalt aus, sondern erfahren auch Gewalt. Nicht selten waren Täter selbst Opfer. Wie alt jene waren, die ihnen Gewalt angetan haben, geht aus diesen Statistiken nicht hervor. Wir sprechen daher kaum von Jugendgewalt, sondern von Jugend und Gewalt.

Die öffentliche Debatte suggeriert eine Verrohung der Jugend. Man spricht nicht nur von einer Gewaltzunahme, sondern auch von einer neuen Form von Brutalität, einer Art blinden Gewaltrauschs, der man mit erzieherischen Massnahmen nicht mehr begegnen könne. Der Ruf nach einer Verschärfung des Strafrechts wird laut.

Aus Sicht der Offenen Jugendarbeit wäre diese Reaktion falsch. Statt den Blick auf die Zeit im Leben eines Täters nach der Tat sollten wir ihn auf das Leben aller Jugendlichen richten, sodass es im besten Fall «die Tat» am Ende gar nicht gibt. Statt anhand einzelner Taten oder uneingeordneter Fakten zu fordern, jemand müsse jetzt endlich mal etwas tun, und sich händeringend und hilfesuchend an eine Fachwelt zu wenden, sollten wir, die Erwachsenen in unserer Gesellschaft, uns für eine Kultur einsetzen, in der es normal ist, sich für andere zu interessieren.

 

Wer sind die Jugendlichen?

Die wenigsten Erwachsenen erleben, was wir in der Offenen Jugendarbeit sehen, nämlich dass sich schätzungsweise 99 Prozent aller Jugendlichen angemessen verhalten. Für sie interessiert sich die Öffentlichkeit selbst dann nicht, wenn es ihnen richtig schlecht geht – so schlecht, dass die kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychologischen Angebote Wartelisten führen müssen. Wahrgenommen werden Jugendliche erst dann, wenn sie stören. Und Interesse wird erst dann geweckt, wenn extreme Vorfälle aufschrecken.

Trotz unserer Aufgabe, uns für alle Jugendlichen zu interessieren – unabhängig davon, ob es ihnen gut oder schlecht geht, ob sie sich auffällig oder angepasst verhalten – können wir keine Einschätzung darüber vornehmen, wer die Täter sind, welchen Charakter sie haben, was sie antreibt, aus welchem Milieu sie stammen. Wir können nur die Jugendlichen beschreiben, denen wir in allen 25 Gemeinden begegnen, in denen wir Offene Jugendarbeit leisten.

Diese Jugendlichen blicken nicht in in eine prosperierende Zukunft. Sie verfügen nicht über das zuversichtliche und selbstwirksame Lebensgefühl, wie es ältere Generationen taten: Die Idee, dass alles besser wird, wenn man sich nur anstrengt, liegt ausser Reichweite. Die heutigen Jugendlichen müssen angesichts der globalen Probleme Verzicht lernen, obwohl sie auf die Vorstellung konditioniert sind, dass das Mehr Verbesserung verspricht.

 

Toleranz und Mitgefühl abtrainiert

Von diesen Jugendlichen wurde schon in der Kindheit Anpassung und erwachsenes Verhalten eingefordert. Die Normierung beginnt noch vor dem Eintritt in den Kindergarten. Es wird erwartet, dass Kinder dann keine Windeln mehr brauchen, sozial angepasst sind, bis 10 zählen und Deutsch können. Kommen sie ins Jugendalter, haben sie die Erfahrung gemacht, dass sie sich nicht aus sich heraus im eigenen Tempo entwickeln dürfen, sondern sich entsprechend den Erwartungen von aussen zu entwickeln haben. Erwachsene sind nicht bereit, Andersartiges zuzulassen, während Kindern genau das im Grunde mühelos gelänge.

Wir vermuten, dass wir deshalb in unserer Arbeit Jugendliche erleben, die sich nach Bestätigung, Wirksamkeit, Anerkennung und Zugehörigkeit sehnen. Besonders jene, die aufgrund ihres Milieus oder sogar ihres Wohnorts in bestimmten Quartieren schon früh stigmatisiert werden, sind darauf angewiesen, als Individuen ernst genommen zu werden. Wenn sie Zugehörigkeit nicht in Schulen, Vereinen oder in der Offenen Jugendarbeit finden, dann steigt das Risiko, dass sie schliesslich in radikalisierten religiösen, politischen oder Fan-Gruppierungen landen. Denn diese Gruppierungen sind darauf spezialisiert, Jugendlichen einen Sehnsuchtsort zu bieten, und sie dann für ihre Ziele zu missbrauchen. Die ganz wenigen Jugendlichen, die zu bestürzenden Taten in der Lage sind, bekommen viel zu spät, nämlich nach einer Tat, die dringend benötigte Aufmerksamkeit.

 

Kontinuierliche Begleitung

Aus unserer Sicht gibt es nur eine Chance, diesen Vorgängen etwas entgegenzusetzen: Jugendlichen müssen breitflächig Erwachsene zur Seite gestellt werden, die sich kontinuierlich und tiefgreifend für sie als Individuen interessieren. Dabei darf es nicht darum gehen, etwas Bestimmtes zu verhindern, oder anderes zu fördern, sondern darum, sie in dieser Lebensphase ernst zu nehmen und zu zeigen, dass wir als Gesellschaft auf sie angewiesen sind. Eine personell gut ausgestattete, breitflächig eingesetzte und fachlich geführte Offene Jugendarbeit könnte dem Zufall, der bestimmt, ob und wo sich diese Jugendlichen radikalisieren, Einhalt gebieten.

Dass sich Jugendliche, die zu geplanten, schwerwiegenden Gewalttaten fähig sind, am möglichen Strafmass orientieren, scheint auf der Basis solcher Überlegungen geradezu absurd. Weder werden Straftaten verhindert, noch potentielle Opfer geschützt, wenn das Strafmass erhöht oder die Strafmündigkeit herabgesetzt werden. Solche Massnahmen dienen dazu, das Gewissen Erwachsener zu beruhigen, die vorher nicht alles unternommen haben, um sich richtig um junge Menschen zu kümmern.

Unserer Meinung nach setzt das Jugendstrafrecht innerhalb seines Wirkungskreises bisher an den richtigen Punkten an. Als Gesellschaft sollten wir uns dennoch fragen, was wir tun könnten, damit es gar nicht zur Anwendung kommen muss.

 

Marco Bezjak ist Jugendarbeiter und als Spezialist für Offene Jugendarbeit in fünf Kantonen tätig. Er ist Gründer und Präsident der MOJUGA Stiftung für Kinder- und Jugendförderung sowie Gastdozent für Soziale Arbeit an der ZHAW und an der HSLU. 

 

 

Weitere Beiträge zu diesem Thema:

Prof. Gian Ege: Revision des Jugendstrafrechts (UNSER RECHT, 22.5.2024