Was soll und kann der Bundesrat beim Europarat anstreben?

Ulrich Gut

 

National- und Ständerat verwarfen in ihren EMRK-Sondersessionen am 24. und 25. September die aus Anlass des Klimaurteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eingereichten Vorstösse für die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) deutlich. Hingegen stimmte der Ständerat einer Motion von Andrea Caroni (FDP-Liberale, Appenzell Ausserrhoden) mit 32 Ja- gegen 12 Nein-Stimmen zu, die den Titel trägt: «Der EGMR soll sich an seine Kernaufgabe erinnern». Sie hat folgenden Wortlaut:

«Der Bundesrat wird beauftragt, zusammen mit den andern Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darauf hinzuwirken, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an seine Kernaufgabe erinnert. Namentlich soll der EGMR keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen (vgl. Art. 34 EMRK) und nicht mittels ausufernder Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken (vgl. Präambel bzw. 15. Protokoll). Im Vordergrund als Massnahme steht die Aushandlung eines entsprechend verbindlichen (17.) Protokolls zur EMRK.»

Der Bundesrat beantragte die Annahme dieser Motion.

Die Erwartungen und Befürchtungen, was der Bundesrat im Sinne dieses Auftrags bewirken könne, gingen im Ständerat weit auseinander. Die Sprecher der SVP vertraten die Ansicht, die Schweiz könne die nötige Reform nur in Bewegung bringen, wenn sie die EMRK kündige. Gegnerinnen und Gegner der Motion, Ratsmitglieder der SP (ausser Daniel Jositsch, der die Motion Caroni unterstützte) und der Grünen, erhoben den Vorwurf, bei Annahme der Motion werde die richterliche Unabhängigkeit des EGMR verletzt und der Schutz der Grundrechte geschwächt (so hatte sich auch die NGO-Plattform Menschenrechte geäussert: https://www.humanrights.ch/de/ngo-plattform/motion-243485-staenderat-caroni-verletzt-richterliche-unabhaengigkeit-schwaecht-schutz-fundamentaler-rechte).

Caroni äusserte folgende Erwartung: «Wir reformieren, was uns nicht passt. Übersetzt in die Sprache des Sports: Wir optimieren das Schiedsrichterreglement und die Schiedsrichterausbildung. Das ist das, was diese Motion will. Wir verbessern den EGMR innerhalb des Systems. Dazu muss der Bundesrat auf die anderen Vertragsstaaten zugehen, das sind immerhin die Herren der Verträge – ich erinnere an das Zitat von Herrn Stark -, die Auftraggeber des EGMR. Diese sollen ein neues Zusatzprotokoll aushandeln. Nach aktueller Zählung wäre es das siebzehnte, also nicht das erste. Das Zusatzprotokoll soll den EGMR an seine Kernaufgaben erinnern. Wenn man ans Klimaurteil denkt, kommt man zum Schluss, dass da verbindlich im Text ein paar Hinweise anzubringen wären.
Erstens könnte man im Zusatzprotokoll klar sagen: Es gibt keine ideelle Verbandsbeschwerde, sondern nur konkrete Beschwerden Betroffener. Zweitens könnte man klarmachen, dass die Ermessensspielräume der Staaten noch stärker zu achten sind und der EGMR nur subsidiär tätig ist. Drittens könnte man sagen, dass nur konkrete Verletzungen zu adressieren sind und nicht abstrakte globale Entwicklungen mit diffusen Kausalketten. Viertens könnte man dem EGMR in einem solchen Protokoll klarmachen, dass seine einzige Aufgabe darin besteht, die EMRK anzuwenden – und nicht beliebige andere Staatsverträge. Diese Option scheint mir der richtige Weg zu sein.»

Bundesrat Beat Jans erklärte im Ständerat, er verstehe den Auftrag so: «Mit der Motion Caroni soll der Bundesrat beauftragt werden, darauf hinzuwirken, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an seine Kernaufgabe erinnert. Im Vordergrund steht als Massnahme die Aushandlung eines entsprechend verbindlichen Protokolls zur EMRK. Wir werden den Auftrag ernst nehmen und erstens ein Zusatzprotokoll fordern und zweitens unserer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Das bringt der Bundesrat ja auch zum Ausdruck, indem er als Bundesrat einen Umsetzungsbericht verabschiedet. Die Aushandlung eines Protokolls zur EMRK mit klaren Leitplanken für den EGMR erscheint dem Bundesrat also erstrebenswert. Wir werden uns dafür einsetzen. Die Aushandlung eines neuen Protokolls zur EMRK ist jedoch ein langer Prozess, der die Unterstützung der anderen EMRK-Vertragsstaaten erfordert, und zwar aller. Eine solche Änderung wird nicht einfach zu erreichen sein, und dessen müssen Sie sich bewusst sein. Es gilt auch zu berücksichtigen, dass ein blosses Zusatzprotokoll es nicht erlauben würde, die bestehende Rechtsprechung rückgängig zu machen.»

Der Bundesrat wird aber vorab auch klären müssen, was unter der “Kernaufgabe“ des EGMR und unter „ausufernder Interpretation“ zu verstehen sei. Zu bedenken ist, dass der EGMR die Menschenrechte durch dynamische Rechtsprechung schützen muss, wenn er mit neuartigen Bedrohungen und Verletzungen konfrontiert ist. Der Bundesrat soll sich deshalb nicht gegen die dynamische Rechtsprechung als solche wenden, sondern sich mit deren Verständnis und mit der konkreten dynamischen Auslegung von EMRK-Artikeln auseinandersetzen. Auch das Bundesgericht legt die Bundesverfassung dynamisch aus, um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten.

 

Die Schweiz braucht valable Partnerstaaten

Der Bundesrat hat mit einem Vorschlag eines Zusatzprotokolls zur EMRK nur eine Erfolgschance, wenn er genügend Unterstützung anderer Mitgliedstaaten des Europarates dafür gewinnt. «Imaginez notre gouvernement collaborer avec le gouvernement hongrois de M. Orban, slovaque de M. Fico ou encore celui de M. Erdogan en Turquie», warnte SP-Ständerat Carlo Sommaruga. Aber solche Regierungen könnten einem Vorschlag, mit dem die Schweiz geltend macht, die EMRK nicht schwächen, sondern ihre Akzeptanz wieder stärken zu wollen, nicht helfen. Vielmehr muss sich nun zeigen, ob der Bundesrat im Europarat Staaten findet, deren Loyalität zur EMRK und deren Respekt vor Grundrechten und Rechtsstaat unzweifelhaft ist, denen aber die «dynamische Rechtsprechung» des EGMR ebenfalls zu weit geht, und die insbesondere die Meinung der Schweizer Bundesbehörden teilen, dass der Entscheid über die Einführung eines ideellen Verbandsbeschwerderechts in die Kompetenz der Konventionsstaaten und nicht des Gerichts falle.

Bei allem Respekt vor der richterlichen Unabhängigkeit des EGMR ist festzustellen, dass die EMRK tatsächlich ein Äquivalent zu einer nationalen Legislative hat, nämlich die Mitgliedstaaten, und dass es grundsätzlich die Gewaltenteilung nicht verletzt, wenn sie sich bemühen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.

 

Neuer Konfliktstoff

Im National- wie im Ständerat wurde bereits Kritik an einer kurz zuvor bekannt gewordenen Verurteilung der Schweiz laut: Durch die Landesverweisung eines wegen Drogenhandels verurteilten Bosniers habe die Schweiz Artikel 8 der EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, verletzt, da sie den persönlichen Umständen und der Entwicklung des Verurteilten seit der Tatbegehung zu wenig Rechnung getragen habe. Der EGMR sprach dem Kläger eine Genugtuung von 10’000 Euro zu.

Am Dienstag, 24. September, hatte der Nationalrat einer Motion «Kein Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene» zugestimmt, die, wenn sie Gesetz würde, zu weiteren Verurteilungen der Schweiz wegen Missachtung des Rechts auf Familienleben führen könnte. Der Ständerat überwies nun aber eine gleichlautende Motion von Esther Friedli, zusammen mit zwei weiteren asylpolitischen Vorstössen, an eine seiner Kommissionen. Sie soll auch zur Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Bundesverfassung und der EMRK Stellung nehmen.

Es ist anzunehmen, dass die Entwicklung der Rechtsprechung zu Artikel 8 EMRK bei den Bemühungen des Bundesrates um ein Zusatzprotokoll von besonderer Bedeutung sein wird.

 

Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT. Er verfasste diesen Artikel unter Mitwirkung von Vorstandsmitgliedern.