Stellungnahme des Bundesrates zum Klima-Urteil schafft keine Klarheit

Von Ulrich Gut

 

Ständerat und Nationalrat haben den Bundesrat in Stellungnahmen aufgefordert, beim Europarat gegen die dynamische Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu protestieren, die zur Gutheissung einer Klage der Schweizer KlimaSeniorinnen führte, und Massnahmen zu prüfen, um dieser Rechtsprechung Schranken zu setzen. Zum Urteil selbst solle er erklären, die Schweiz habe es bereits erfüllt, wobei umstritten blieb, ob die Räte den Bundesrat damit zur Verweigerung des Urteilsvollzugs aufforderten.

Am Mittwoch, 28. August 2024 gab nun der Bundesrat bekannt, wie er sich gegenüber dem Europarat nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhalten will. Link zur Medienmitteilung: Bundesrat klärt seine Haltung zum EGMR-Urteil über den Klimaschutz (admin.ch)

Der Bundesrat verweigert den Vollzug des Urteils nicht, erhebt aber den Anspruch, die Schweiz habe dessen Anforderungen bereits erfüllt:

«Insbesondere mit dem revidierten CO2-Gesetz vom 15. März 2024 hat die Schweiz Massnahmen definiert, um ihre Klimaziele 2030 zu erreichen. Diese Weiterentwicklung der Schweizer Klimapolitik hat der EGMR in seinem Urteil nicht berücksichtigt. Auch das Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 23. September 2023 hat der EGMR in seinem Urteil nicht berücksichtigt.»

Der Bundesrat wird dies dem Ministerkomitee des Europarats, das gemäss EMRK den Vollzug der Urteile überwacht, darlegen. Die KlimaSeniorinnen, Greenpeace und andere Organisationen werden dies bestreiten (siehe ihre gleichentags abgegebenen Stellungnahmen auf ihren jeweiligen Webseiten).

Der Bundesrat lehnt die Erweiterung des Verbandsbeschwerderechts ab, die der EGMR durch Bejahung der Klagelegitimation des Vereins KlimaSeniorinnen vorgenommen hat:

«Er ist der Ansicht, dass dies die Realisierung dringend nötiger Infrastrukturen weiter erschweren würde. Das EJPD hat jedoch den Auftrag erhalten, dem Bundesrat bis Ende 2025 zu berichten, inwiefern sich das Urteil auf die Praxis der Bundesverwaltung und -gerichte zur Beschwerdebefugnis von Verbänden ausgewirkt hat. Dabei wird der Bundesrat auch allfällige weitere Entwicklungen der Rechtsprechung und das Vorgehen anderer EMRK-Vertragsstaaten berücksichtigen können.»

 

Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile entscheidend

UNSER RECHT hatte dem Bundesrat am 16. Juli 2024 einen Brief geschrieben:

«(…) Wie immer Ihre Stellungnahme ausfällt: Im Interesse des Schutzes der Menschenrechte in ganz Europa scheint es uns enorm wichtig, sie zu verbinden mit einem klaren Bekenntnis zum Wert der EMRK und insbesondere zu Art. 46 EMRK, der die Verbindlichkeit und den Vollzug der Urteile durch die Hohen Vertragsparteien sicherstellt.

 Die Auseinandersetzungen infolge des KlimaSeniorinnen-Urteils könnten über längere Zeit andauern, auch wegen der parlamentarischen Vorstösse. Sie könnten die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR in der Schweiz schwächen, aber auch zu einer Neubesinnung auf deren Wert führen. Die Urheberinnen und Urheber der parlamentarischen Stellungnahmen bekannten sich explizit zur EMRK und wollen ihren Protest als Beitrag zu deren Akzeptanz verstanden wissen.

Bitte nehmen Sie mit einer klaren öffentlichen Stellungnahme Einfluss auf den weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung. Da die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt, würde der Schutz der Grundrechte, obwohl sie auch in der Bundesverfassung stehen, durch eine Kündigung der EMRK schwerwiegend geschwächt.»

 

Bundesrat deklamiert Bekenntnis zum Europarat und zum «System der EMRK»

Der Bundesrat bekennt sich nun «zur Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat und zum System der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die EMRK und die Mitgliedschaft im Europarat, zu dessen Grundwerten der Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zählen, bleiben für die Schweiz von grosser Bedeutung. Der Bundesrat kritisiert jedoch die weite Auslegung der EMRK durch den EGMR im Urteil zu den KlimaSeniorinnen. Die Rechtsprechung darf nicht zu einer Ausweitung des Geltungsbereichs der EMRK führen.»

Im «System der EMRK», zu dem sich der Bundesrat bekennt, ist zweifellos Art. 46 EMRK, der die Verbindlichkeit und den Vollzug der Urteile durch die Hohen Vertragsparteien sicherstellt, von grösster Bedeutung.

Noch äussert sich der Bundesrat nicht zur Frage, was er gegen eine «Ausweitung des Geltungsbereichs der EMRK» zu tun gedenkt. Systemimmanent könnte sein, den anderen Mitgliedstaaten des Europarats ein Zusatzprotokoll zur EMRK vorzuschlagen. Der Bundesrat wird sich dazu äussern, wenn er zum parlamentarischen Vorstoss Stellung nimmt, der ein solches Zusatzprotokoll fordert.

 

Ministerkomitee des Europarats am Zug

Es obliegt dem Ministerkomitee des Europarats, zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat ein Urteil des EGMR vollzieht. Im vorliegenden Fall wird er auf die Stellungnahme des Bundesrates eingehen müssen. Die Mitgliedsstaaten sind im Ministerkomitee durch ihre Aussenminister vertreten, die Schweiz also durch Bundesrat Ignazio Cassis. Botschafterinnen und Botschafter fungieren als Delegierte des Ministerkomitees.

Was nun zwischen der Schweiz und dem Europarat vorgeht, ist auch von europaweiter Bedeutung: Jede Relativierung der Verbindlichkeit der EMRK in der Schweiz kann in anderen Staaten aufgegriffen werden und die EMRK daher nicht nur in der Schweiz schwächen.

 

Parlamentarische Vorstösse

Innenpolitisch geht die Auseinandersetzung nun auf der Schiene parlamentarischer Vorstösse weiter: Von der erwähnten Forderung, ein Zusatzprotokoll zur Beschränkung der dynamischen Rechtsprechung des EGMR vorzuschlagen, bis zu derjenigen nach Kündigung der EMRK. Dies findet in einem politischen Klima statt, in dem auch die Rechtsprechung schweizerischer Gerichte vermehrten Versuchen zur Delegitimierung ausgesetzt ist.

 

Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT.

 

Links zu den Stellungnahmen:

Schweizerische Menschenrechtsinstitution:
https://www.isdh.ch/de/smri/aktuell/medienmitteilungen/medienmitteilung-klimaseniorinnen-28-08-2024

NGO-Plattform Menschenrechte:
https://www.humanrights.ch/de/ngo-plattform/glaubwuerdigkeit-schweiz-menschenrechtsstaat-spiel

Greenpeace:
https://www.greenpeace.ch/de/handeln/lieber-bundesrat-respektiere-das-egmr-urteil/

Amnesty Schweiz:
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2024/bundesrat-muss-fuer-klimaschutz-und-menschenrechte-einstehen

Operation Libero:
https://www.operation-libero.ch/de/medien-mitteilungen/2024-08-28/ein-hohn-fuer-den-menschenrechtsschutz-bundesrat-schwaecht-egmr

 

Weitere Artikel zu diesem Thema:

Dr. iur. Ulrich Gut: Nach dem Klimaurteil des EGMR (UNSER RECHT, 7. Juni 2024)

Prof. Dr. iur. Julia Hänni: KlimaSeniorinnen (UNSER RECHT, 14. Mai 2024)

Dr. iur. Ulrich Gut: Schutz der Gesundheit ist Voraussetzung für Privatleben (UNSER RECHT, 10. April 2024)

Prof. Dr. iur. Helen Keller: Klima vor Gericht (UNSER RECHT, 14. November 2023)