Klima vor Gericht

von Helen Keller

I. Einleitung

1. Kontext

Die Klimaerwärmung ist real. Diese Tatsache ist mittlerweile wissenschaftlich ebenso unbestritten wie der Umstand, dass der Mensch für einen Grossteil der Erwärmung verantwortlich ist. Die Erwärmung ist bereits so weit fortgeschritten, dass gewisse Kipppunkte bald erreicht sein werden. Falls noch grössere Katastrophen verhindert werden sollen, muss dringend gehandelt werden.

 

2. Argumente für und gegen Klimaprozesse

In den letzten Jahren zeichnet sich ein Trend ab, dass sich immer mehr Personen vor nationalen und internationalen Gremien auf ihre Menschenrechte berufen, um den Klimawandel zu bekämpfen. Im englischen Sprachgebrauch wird von einem «turn to rights» gesprochen. Die Gründe für Klimaprozesse sind vielfältig.

Viele Menschen fühlen sich durch den Klimawandel existenziell bedroht. Es wird behauptet, dass ihr Recht auf Privat- und Familienleben, das Verbot von Misshandlungen und letztlich ihr Recht auf Leben verletzt wird. Teilweise wird auch argumentiert, dass sie von der Klimaerwärmung mehr betroffen sind als andere, was Fragen der Rechtsgleichheit oder des Diskriminierungsverbots aufwirft.

Die Kläger haben den Eindruck, dass der Klimaschutz im politischen Meinungsbildungsprozess zu wenig Gewicht bekommt und die nationalen Klimaschutzgesetze zu sehr von kurzfristigem Denken und von wirtschaftlichen Interessen geprägt sind. Zudem fehlt es in vielen Ländern an verbindlichen Standards für den Klimaschutz. Auf internationaler Ebene existieren zwar Abkommen (beispielsweise das Pariser Klimaabkommen). Allerdings fehlt es regelmässig an einem Gremium, das die Einhaltung gewisser Standards überprüfen könnte. Letztlich existiert auch kein internationaler Klimagerichtshof.

Insgesamt gestaltet sich die Situation somit komplex. Trotz grossem Handlungsbedarf besteht eine geringe Dichte an normativen Vorgaben und keine starke internationale Institution, welche die Einhaltung von Soft- und manchmal auch Hard-Law-Standards im Klimarecht durchsetzen könnte.

In der Politik und Wissenschaft ist eine hitzige Debatte um die Frage entbrannt, ob die Menschenrechte dieses normative Vakuum tatsächlich auffüllen können und ob Gerichte über Klimaklagen entscheiden sollten. Es wird argumentiert, Gerichte seien nicht demokratisch legitimiert und sollten daher nicht über solche Fälle entscheiden. Zudem seien Menschenrechte keine Klimaschutzrechte. Die Gerichte wären mit dieser Art von Fällen überfordert, weil die wissenschaftlichen Daten enorm umfangreich sind und zu viele verschiedene Interessen auf dem Spiel stehen. Zudem sei es Aufgabe der Legislative, sich mit dem Klimawandel zu befassen und ohnehin ginge es viel zu lange, bis die Gerichte entschieden haben.

Zunächst ist zu sagen, dass die Gerichte durchaus demokratisch legitimiert sind und grundsätzlich über die ihnen vorgelegten Klagen entscheiden müssen. Das Argument, Gerichte seien “keine demokratischen Institutionen”, ist ein Rundumschlag, der den Gerichten jegliche Funktion abspricht. Gerichte erfüllen jedoch eine unverzichtbare Aufgabe im modernen Rechtstaat.

Was das zweite Argument betrifft, so ist es zutreffend, dass die Menschenrechte, insbesondere in der Form, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet wurden, in erster Linie den Einzelnen vor staatlichen Eingriffen schützen sollen. Der Klimawandel war in den 1950er und 1960er Jahren noch kein Thema, weshalb diese Art von «Eingriff» nicht mitgedacht wurde bei der Konzipierung der Menschenrechte. Allerdings haben alle Menschenrechtsgremien stets betont, dass die Menschenrechtsgarantien zeitgemäss zu interpretieren sind, damit die Menschen auch vor neuen Bedrohungen geschützt werden können.

Es ist sodann zutreffend, dass Gerichte mit sehr unterschiedlichen Interessen konfrontiert sind, wenn es um Klimaprozesse geht. Allerding ist dies nicht unüblich und auch in anderen Bereichen anzutreffen. Zu denken ist beispielsweise an die moderne Fortpflanzungsmedizin, wo stets eine faire Lösung zwischen sehr unterschiedlichen Interessen gefunden werden muss.

Unbestrittenermassen sind Klimafälle schwierig. Sie verlangen von den Gerichten, dass sie sich eingehend mit wissenschaftlichen Berichten und unterschiedlichen, teils sehr umfangreichen Daten auseinandersetzen. Allerdings trifft dies auch zu auf andere Bereiche der Rechtsprechung, wie beispielsweise das Medizinrecht, weshalb dies keine Spezialität von Klimaklagen darstellt.

Schliesslich ist richtig, dass es Aufgabe der Politik ist, Lösungen für die Klimakrise zu definieren. Aber was bleibt dem Einzelnen, wenn er der Meinung ist, dass die Politik versagt? Wohl nur der Gang vor die Gerichte. Diese werden die Fälle nicht im Schnellzugstempo entscheiden. Gut Ding will Weile haben – das gilt nicht nur für Gerichte, aber bei ihnen ganz besonders.

3. Zwischenfazit für die Rolle der Gerichte

Gerichte haben bei der Bewältigung der Klimakrise eine wichtige, wenn auch schwierige Rolle zu übernehmen. Sie befinden sich auf einer Gratwanderung, bei der sie einerseits Verantwortung für die Menschenrechte übernehmen müssen, andererseits aber keine zu aktivistischen Entscheidungen treffen dürfen, um nicht die eigene Legitimität zu gefährden.

II. Klimafälle vor dem EGMR

1. Allgemeines zum EGMR

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR) ist ein Organ des Europarates. Der Europarat umfasst alle Staaten Europas, inklusive der Schweiz. Nicht Teil des Europarates sind Russland sowie Weissrussland. Das wichtigste Dokument des Europarates ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), welche 1950 verabschiedet worden ist. Die Aufgabe des EGMR besteht in der Überprüfung der Einhaltung der Menschenrechtsgarantien durch die Vertragsstaaten. Opfer von Menschenrechtsverletzungen können sich, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges, an den EGMR wenden und ihr Menschenrechtsanliegen vorbringen. Beschwerden richten sich immer gegen Staaten, nicht gegen Einzelpersonen. Die Urteile sind verbindlich und müssen von den Staaten umgesetzt werden.

2. Die hängigen Fälle vor dem EGMR

Obwohl der Gerichtshof in über 300 Fällen den Bezug zwischen Menschenrechten und Umweltschutzanliegen hergestellt hat, hat er bisher noch keine Urteile im Klimabereich gefällt. Gegenwärtig befinden sich drei Klimabeschwerden in einem fortgeschrittenen Stadium. Weitere wurden eingereicht, wobei der EGMR in einer Pressemitteilung klargestellt hat, dass diese Fälle sistiert werden, bis die grosse Kammer über die hängigen Klimafälle entschieden hat.

Im ersten Fall Duarte Agostinho und andere gegen Portugal und 32 andere Staaten klagen sechs portugiesische Jugendliche, die behaupten, dass der Klimawandel ihr Leben und ihre Gesundheit beeinträchtigt hat und weiterhin beeinträchtigen wird. Sie machen geltend, dass die zunehmende Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen in Portugal ihre Fähigkeit zu schlafen, Sport zu treiben und Zeit im Freien zu verbringen beeinträchtigt und ihnen Angst vor möglichen Auswirkungen auf sie selbst und auf die Familien, die sie in Zukunft zu haben hoffen, bereitet. Sie machen ausserdem geltend, dass sie aufgrund ihres Alters stärker in ihren Rechten beeinträchtigt werden als ältere Generationen, weil sie länger leben und sich die Auswirkungen des Klimawandels mit der Zeit verstärken werden (vgl. Grafik des IPCC Reports). Der Fall wurde an alle 33 befragten Länder zugestellt. In keinem der beklagten Staaten haben die Beschwerdeführer einen nationalen Prozess begonnen. Die nationalen Rechtsmittel sind also nicht ausgeschöpft worden.

Im zweiten Fall, KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz, handelt es sich bei den Klägerinnen um eine Gruppe älterer Frauen, die argumentieren, dass sie aufgrund ihres Alters und ihres Geschlechts besonders gefährdet sind, durch klimawandelbedingte Hitzewellen vorzeitig zu sterben oder schwer beeinträchtigt zu werden. Sie behaupten, dass die Schweiz es versäumt hat, Massnahmen zur Erfüllung ihres Ziels im Rahmen des Pariser Klimaabkommens umzusetzen und durchzusetzen, und dass dieses Versäumnis das Risiko einer hitzebedingten Übersterblichkeit bei älteren Frauen erheblich erhöht. Neben den Frauen hat auch der Verein der Klimaseniorinnen Beschwerde eingereicht. Das Bundesgericht hatte im nationalen Verfahren die Frage, ob der Verein beschwerdelegitimiert sei, offengelassen. Bei den älteren Frauen hat das Bundesgericht entschieden, dass sie nicht mehr als alle anderen Personen von der Hitze betroffen seien und deshalb nicht legitimiert seien (vgl. BGE 146 I 145).

 

Der dritte Fall (Carême v. France) stammt aus Frankreich. Sowohl die Gemeinde Grande-Synthe wie auch Monsieur Carême, ehemaliger Bürgermeister von Grande-Synthe, hatten sich 2018 an den französischen Präsidenten, die Regierung und an das Umweltministerium gewandt mit dem Antrag, alle nötigen Schritte zu unternehmen, um dem steten Anstieg von CO2-Emissionen entgegenzuwirken. Weil dieser Antrag unbeantwortet blieb, reichten sowohl Monsieur Carême wie auch die Gemeinde eine Beschwerde beim Conseil d’État ein. Dieser trat auf die Beschwerde der Gemeinde ein und ordnete an, dass die Regierung Massnahmen ergreifen müsse, um den CO2 Ausstoss um 40% zu reduzieren (Commune de Grande-Synthe v. France). Auf die Beschwerde von Monsieur Carême trat der Conseil d’État jedoch nicht ein, da er sein Interesse an dieser Rechtssache nicht dargelegt habe. Diesen Entscheid hat Herr Carême beim EGMR angefochten. Er macht geltend, dass damit sein Recht auf Privat- und Familienleben verletzt sei. Er und sein Haus seien unmittelbar von der Untätigkeit der Regierung und dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels betroffen.

Erwähnenswert sind sodann zwei weitere Fälle. Müllner v. Austria betrifft einen jungen Mann, der an einer speziellen Form von MS leidet, welche sich bei einem Temperaturanstieg stark verschlimmert. Der zweite Fall (Greenpeace Nordic and Others v. Norway) betrifft sechs junge Klimaaktivisten, die zusammen mit zwei norwegischen Umweltorganisationen einen Antrag eingereicht haben, um die Frage der arktischen Ölbohrungen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen.

Es sind somit bereits eine ganze Reihe von Klimafällen vor dem EGMR und es werden bestimmt nicht die Letzten sein.

III. Zulässigkeitsfragen

Bevor der EGMR einen Fall in der Sache beurteilen kann, muss er prüfen, ob alle Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind (vgl. Art. 35 EMRK). Vor dem EGMR scheitern mehr als 90 % aller Fälle an den Zulässigkeitsvoraussetzungen, werden also für unzulässig erklärt.

In Bezug auf Klimaklagen dürften vor allem die Zuständigkeit, die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges sowie der Opferstatus besondere Herausforderungen mit sich bringen. Da die Einhaltung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Legitimität des Gerichtshofes von grosser Wichtigkeit ist, wird er sich nicht leichtfertig über sie hinwegsetzen.

1. Zuständigkeit

Die Zuständigkeit fragt danach, welches Gericht über einen Klimafall entscheiden kann. Die Beantwortung dieser Frage ist bei einem Problem von globaler Dimension nicht einfach zu beantworten. Normalerweise bestimmt sich die Zuständigkeit des Gerichthofes territorial. Es kann somit jeweils gegen jenen Staat Beschwerde vorgebracht werden, auf dessen Territorium sich eine Menschenrechtsverletzung ereignet hat.

Im Fall der Klimaseniorinnen sowie dem französischen Fall ist dies unproblematisch. In beiden Fällen sind es Staatsangehörige, die sich auf dem Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates aufhalten und geltend machen, dass ein Versäumnis dieses Staates zu einer Menschenrechtsverletzung geführt hat.

Anders verhält es sich im portugiesischen Fall. In diesem Verfahren klagen sechs junge Portugiesen gegen insgesamt 33 Staaten und fordern die Reduktion des CO2-Ausstosses. Doch kann die Schweiz oder Finnland tatsächlich für die Auswirkungen der Klimaerwärmung in Portugal verantwortlich gemacht werden? Und falls ja, könnten dann in Zukunft auch Menschen anderer Kontinente Beschwerden beim EGMR anhängig machen mit der Begründung, Europa sei für die Klimaerwärmung beispielsweise in Asien oder Afrika verantwortlich? Solche Konstellationen zeigen, die klassischen Regeln der territorialen Zuständigkeit kommen bei einem Problem von globaler Dimension wie dem Klimawandel unter Druck. Ob der EGMR die Zuständigkeitsregeln für die Klimafälle ganz anders definieren will, erscheint zumindest zweifelhaft.

2. Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

Eine zweite verfahrensrechtliche Hürde stellt die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs dar. Dieses Grundprinzip des internationalen Rechts verlangt, dass ein Antragssteller zunächst versucht, seine Probleme mit Hilfe innerstaatlicher Rechtsmittel zu lösen, bevor er sich an ein internationales Gericht wendet.

Im Fall der Klimaseniorinnen ist das Erfordernis der Erschöpfung erfüllt. Die Klägerinnen haben vor dem Bundesverwaltungsgericht und schliesslich vor dem Bundesgericht geltend gemacht, dass die Schweiz es versäumt hat, sie hinreichend zu schützen.

Im portugiesischen Fall wäre es für die Kläger schwierig gewesen, ihren Fall zunächst vor die zuständigen nationalen Gerichte in allen 33 betroffenen Ländern zu bringen. Die Beschwerdeführer argumentieren, dass «die Wahrscheinlichkeit, dass jedes der innerstaatlichen Gerichte der Beklagten rechtzeitig einen solchen Rechtsbehelf zur Verfügung stellt, um eine globale Erwärmung von mehr als 1,5 Grad Celsius zu verhindern, stark erhöht wird, wenn der Europäische Gerichtshof anerkennt, dass die Beklagten eine mutmassliche Mitverantwortung für den Klimawandel tragen». Das Hauptargument der Kläger ist somit, dass angesichts der Dringlichkeit der Angelegenheit keine Zeit geblieben ist, um die nationalen Rechtsmittel auszuschöpfen. Ausserdem wäre es für die Beschwerdeführer derart kostspielig, eine separate Klage in jedem Mitgliedstaat zu finanzieren, dass dies wahrscheinlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuwiderlaufen würde. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Erfordernis der Erschöpfung keine unzumutbare Belastung für einen Antragsteller darstellen darf.

Bezüglich der Ausnahmen vom Erfordernis der Ausschöpfung existiert eine gut etablierte Rechtsprechung des Gerichtshofs. Allerdings wurde diese noch nie im Klimakontext angewendet. Beispielsweise vertritt der EGMR die Ansicht, dass es keinen Sinn macht, eine Ausschöpfung zu verlangen, wenn ganz offensichtlich der Staat für die Verletzung verantwortlich ist und es noch nie einen erfolgreichen Rechtsmittelentscheid gegeben hat. Zu denken ist beispielsweise die Konstellation, dass die Polizei systematisch foltert, innerstaatlich jedoch noch nie ein Verantwortlicher deshalb verurteilt worden ist. Ebenfalls eine Ausnahme von der Erschöpfung macht der Gerichtshof in Fällen, wo Staaten eine «mit der Konvention unvereinbare Praxis» pflegen. Eine solche Praxis liegt vor, wenn «eine Anhäufung identischer oder analoger Verstösse besteht, die so zahlreich und miteinander verbunden sind, dass sie nicht nur einzelne Vorfälle oder Ausnahmen darstellen, sondern ein Muster oder System».

Auf den Klimakontext angewendet könnte man beispielsweise an einen Staat denken, der ein weit verbreitetes System von Steuererleichterungen oder anderen Vergünstigungen für Unternehmen, die fossile Brennstoffe herstellen, kennt. Für den Nachweis eines solchen Systems müsste der Gerichtshof jedoch vertieft abklären, ob sich ein Staat «systematisch klimawidrig» verhalten hat. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung gibt es somit zwar Ausnahmen von der Ausschöpfungsregel. Ob diese jedoch ausreichen, um die portugiesische Klage gegen alle 33 Staaten für zulässig zu erklären, darf allerdings angezweifelt werden.

3. Opferstatus

Die dritte wichtige Verfahrensvoraussetzung ist der sogenannte Opferstatus. Beim Gerichtshof kann nicht jeder eine Beschwerde einreichen, sondern nur das Opfer einer angeblichen Menschenrechtsverletzung. Opfer ist nur, wer nachweisen kann, dass er durch die Massnahme, über die er sich beschwert, beeinträchtigt wurde. Der Gerichtshof wendet dieses Kriterium in flexibler Weise an. Solange der Antragsteller rechtlich beeinträchtigt wurde, kann er als Opfer angesehen werden. In Anbetracht dieser weit gefassten Definition werden einzelne Beschwerdeführer in Klimafällen, die nachweisen können, dass ihre eigenen Rechte verletzt wurden, vermutlich keine grossen Schwierigkeiten haben, den Gerichtshof von ihrem Opferstatus zu überzeugen.

Im Falle der Schweiz ist der Opferstatus der älteren Frauen umstritten. Die Regierung argumentiert, dass die älteren Frauen nicht stärker von der globalen Erwärmung betroffen sind als andere. Die Frage des Opferstatus ist daher für den Gerichtshof in diesem Fall nicht einfach zu beantworten. Zudem sind es nicht nur die einzelnen Seniorinnen, die sich in diesem Fall an den Gerichtshof wenden, sondern auch ein Verein, der sich für die Rechte der Klimaseniorinnen einsetzt.

Der Gerichtshof ist seit langem der Ansicht, dass einer Organisation, die unmittelbar von einer bestimmten staatlichen Massnahme betroffen ist, der Opferstatus zuerkannt werden kann. Einer Organisation kann aber auch dann der Opferstatus zuerkannt werden, wenn Einzelpersonen, die negativ betroffen sind, das Problem am besten durch die Bildung einer Vereinigung angehen können. Dies hat der EGMR in der Rechtssache Gorraiz Lizarraga und andere gegen Spanien bejaht. In diesem Fall schlossen sich mehrere Personen zur Vereinigung Coordinadora de Itoiz zusammen, um sich gegen den Bau eines Staudamms zu wehren, der zur Überflutung mehrerer kleiner Dörfer geführt hätte. Die Überschwemmung hätte die Enteignung und Vertreibung der Bevölkerung zur Folge gehabt. Der EGMR führte aus, dass “in den modernen Gesellschaften, wenn die Bürger mit besonders komplexen Verwaltungsentscheidungen konfrontiert sind, der Rückgriff auf kollektive Einrichtungen wie Vereinigungen eines der zugänglichen Mittel, manchmal das einzige Mittel ist, das ihnen zur Verfügung steht, um ihre besonderen Interessen wirksam zu verteidigen”. Zudem betonte er, dass der Begriff “Opfer” in der Konvention “im Lichte der Bedingungen der heutigen Gesellschaft evolutiv ausgelegt werden muss”. Es gibt also gute Gründe dafür, dass der Gerichtshof auf seiner bisherigen Rechtsprechung aufbauen und diese weiterentwickeln sollte und die Klagebefugnis von Umweltgruppen in Klimafällen anerkennt.

IV. Ein Blick in die Zukunft

Die gemachten Ausführungen zeigen, dass nationale und internationale Gerichte in Klimafällen herausgefordert sind. Der Teufel steckt im sprichwörtlichen Detail. Für den EGMR bedeutet dies, dass er im Lichte der Klimakrise neue Massstäbe für verschiedene Zulässigkeitsvoraussetzungen setzen muss. Dies ist möglich, aber der Gerichtshof muss mit diesen Fragen vorsichtig umgehen, damit nicht der Vorwurf des Aktivismus gegen ihn erhoben wird.

Sollte der EGMR die Zulässigkeit eines Klimafalles einmal bejaht haben, dürften sich zahlreiche weitere Fragen stellen. Sind Menschenrechte verletzt worden, und können diese Verletzungen einem Staat zugerechnet werden? Können Staaten haftbar gemacht werden, obwohl der Ausstoss von CO2 legal war? Wie viel Verantwortung muss der Einzelne übernehmen für seinen eigenen Lebensstil (Fliegen, Heizen, Autofahren und vieles mehr)? Gibt es eine historische Verantwortung der Industrieländer, die der Gerichtshof bei seiner Interessenabwägung berücksichtigen muss? Profitieren wir hier in Europa immer noch von einem wirtschaftlichen Vorsprung, weil wir über Jahrzehnte sehr viel mehr CO2 verbraucht haben als etwa Asien oder Afrika? Rutschen wir in eine neue Dimension von postkolonialer Ausbeutung, weil wir in Europa und Nordamerika wahrscheinlich von den Auswirkungen der Klimaerwärmung weniger betroffen sein werden als die Menschen in Asien und Afrika?

Müssen wir den Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot umgestalten, um Klimagerechtigkeit zu schaffen? Können wir die Klimaseniorinnen, die im letzten Viertel ihres Lebens stehen, gleich behandeln wie die Jugendlichen in Portugal, die noch den Grossteil ihres Lebens vor sich haben? Wie steht es mit indigenen Völkern, zum Beispiel mit den Samen oder Inuit, die von einer Klimaerwärmung existenziell bedroht sind, weil sie ihren angestammten Lebensstil nicht mehr fortführen können? Sind wir vor dem Gesetz zwar alle gleich, nicht aber vor der Klimakatastrophe?

Wie beziffern wir den Schaden und die Genugtuung in Klimafällen? Wie viel ist ein verpasstes Jahr an Leben bei einer Klimaseniorin wert, die wegen einer Hitzewelle im Sommer früher stirbt? Wie beziffern wir den Klimastress, den viele Jugendliche haben, weil sie Angst vor den Auswirkungen des Klimawandels haben? Wie berechnen wir den Schaden, wenn ein Hochmoor austrocknet, das von grosser Bedeutung für die Biodiversität ist?

Die Schadensberechnung in Klimafällen steckt noch in den Kinderschuhen (zum EGMR siehe hier). Es wird in den kommenden Jahren mehr Forschung im Bereich der Volkswirtschaft, der Medizin und der Psychologie bedürfen, um die Gerichte besser bei der Beurteilung dieser Fragen zu unterstützten.

V. Schlussfazit

Nicht alle Klimafälle werden Fragen der Klimagerechtigkeit aufwerfen, aber gewisse schon. Die Gerichte werden in kleinen Schritten an diese grossen Fragen herangehen, denn nicht sie allein, sondern wir als Gesellschaft werden uns diesen stellen müssen.

Die Verfahrensvoraussetzungen werden in vielen Klimafällen «nicht richtig passen», und die materiellen Fragen dürften häufig an der Grenze zu dem liegen, was Gerichte bewältigen können. Die Klimaerwärmung fordert unser Rechtsdenken und unsere Rechtsordnung heraus. Gerechtigkeitsfragen stellen sich in einer neuen Dimension, die über Generationen, über die Kontinente und über die herkömmlichen Kategorien von Gleichheit hinausgehen.

Das Verfahren vor dem EGMR ist nicht auf ein globales gesellschaftliches Problem ausgerichtet, selbst wenn es einen genuin menschenrechtlichen Kern aufweist, weshalb die Behandlung dieser Klimaklagen eine Herkulesaufgabe darstellen dürfte.

Die Gerichte und insbesondere der EGMR haben eine grosse Verantwortung. Sie müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte auch bei dieser neuen Bedrohungsform durch die Klimaerwärmung gewahrt werden. Wer allerdings allzu grosse Hoffnung in den EGMR setzt, könnte bei den ersten Klimaurteilen enttäuscht sein. Die Hoffnung, der EGMR könne mit einem Urteil für globale Klimagerechtigkeit sorgen, dürfte überhöht sein. Letztlich werden wir nur gemeinsam die Klimaerwärmung in den Griff bekommen.

 

Helen Keller ist Professorin für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Universität Zürich und leitet gemeinsam mit Frau Dr. Corina Heri das Climate Rights and Remedies Project (CRRP). Zwischen Oktober 2011 und Dezember 2020 amtete sie als ordentliche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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