Erläuterungen zum Urteil des EGMR über die Klage der Klimaseniorinnen

Von Ulrich Gut

 

Bei der Beurteilung der Klage der Schweizer Klimaseniorinnen und ihres Vereins hatte der  Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) davon auszugehen, dass Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einen Anspruch auf Schutz vor schwerer Gesundheitsschädigung gewährt. Dem Wortlaut dieses Artikels ist dies nicht sogleich zu entnehmen: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.» Der EGMR urteilt aber in langjähriger Praxis, dass die Achtung des Privatlebens den Schutz der Gesundheit des Individuums voraussetzt. So entschied er beispielsweise aufgrund von Artikel 8, dass vor chirurgischen Operationen eine Pflicht zu einer Aufklärung besteht, die einen informierten Entscheid ermöglicht.

Das Urteil des EGMR ist einsehbar unter VEREIN KLIMASENIORINNEN SCHWEIZ ET AUTRES c. SUISSE (coe.int), und in einer Medienmitteilung des EGMR zusammengefasst.

Der EGMR beurteilte die Massnahmen gegen die Klimaerwärmung, die die Schweiz getroffen hat, anhand der Anforderungen des Pariser Klima-Abkommens und der Aarhus-Konvention und stellte fest, dass sie diesen nicht genügen. Dadurch verletze die Schweiz das durch Artikel 8 garantierte Menschenrecht älterer und alter Frauen. Deren Gesundheit sei durch grosse Hitze besonders gefährdet, und sie trügen ein erhöhtes Risiko eines vorzeitigen Todes.

Der EGMR musste vorab die Berechtigung zur Klage abklären. Die Klima-Klage wurde sowohl durch einzelne Frauen als auch durch den Verein Klimaseniorinnen Schweiz geführt, der das Interesse älterer und alter Frauen an Massnahmen gegen die Klimaerwärmung vertritt. Eine Voraussetzung der Klagelegitimation ist die Opfer-Eigenschaft: Ein klagendes Individuum muss durch die eingeklagte Handlung oder Unterlassung persönlich geschädigt sein. Der EGMR befand, die klagenden Frauen hätten diesen Nachweis, jede für sich persönlich, nicht erbracht. Jedoch sei statistisch für diese Bevölkerungsgruppe ein erhöhtes Krankheits- und Sterberisiko nachgewiesen. Damit deren Rechte aber geltend gemacht werden können, entschied sich der EGMR, dem Verein die Opferstellung zu geben. So kann er sich dafür einsetzen, dass Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe nicht zu Schaden kommen. Die Aarhus-Konvention «sichert den möglichst freien Zugang zu Umweltinformationen, die Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltrelevanten Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten». (https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89200.html). Die Anerkennung der Opferstellung des Vereins geht in diese Richtung. Ob die Verneinung der Opferstellung der klagenden Einzelpersonen damit vereinbar ist, wird zu diskutieren sein (siehe hierzu Prof. Evelyne Schmid im unten verlinkten Interview).

Das Gericht rügte ferner eine Verletzung von Artikel 6 der EMRK (Recht auf ein faires Verfahren). Das Bundesgericht hätte die Argumente des Vereins der Klimaseniorinnen anhören müssen.

 

Was muss die Schweiz nun tun?

Für die Durchsetzung der Urteile des EGMR ist das Ministerkomitee des Europarats zuständig. Der EGMR wählte diesbezüglich im vorliegenden Fall eine bemerkenswerte Formulierung: «En l’espèce, eu égard à la complexité et à la nature des questions en jeu, la Cour ne saurait se montrer précise ou prescriptive quant aux mesures à mettre en œuvre pour se conformer de manière effective au présent arrêt. Compte tenu de la marge d’appréciation différenciée qui est accordée à l’État dans le domaine en question (paragraphe 543 ci-dessus), elle estime que l’État défendeur, avec l’assistance du Comité des Ministres, est mieux placé qu’elle pour déterminer précisément les mesures à prendre. C’est donc au Comité des Ministres qu’il appartient de vérifier, à partir des informations fournies par l’État défendeur, que les mesures visant à assurer que les autorités internes se conforment aux exigences de la Convention, telles que clarifiées dans le présent arrêt, ont été adoptées» (Ziffer 655 des Urteils).

Angesichts der Komplexität der Materie sei es vor allem an der Schweiz, mit Unterstützung («avec l’assistance») des Ministerkomitees die nötigen Massnahmen zu erkennen und zu treffen.

Der EGMR gibt aber Anhaltspunkte (Ziffer 550): «Pour déterminer si un État est resté dans les limites de sa marge d’appréciation (paragraphe 543 ci-dessus), la Cour recherche si les autorités internes compétentes, qu’elles soient législatives, exécutives ou judiciaires, ont dûment tenu compte de la nécessité :

  1. d’adopter des mesures générales précisant le calendrier à respecter pour parvenir à la neutralité carbone ainsi que le budget carbone total restant pour la période en question, ou toute autre méthode équivalente de quantification des futures émissions de GES, conformément à l’objectif primordial correspondant aux engagements nationaux et/ou mondiaux en matière d’atténuation du changement climatique ;
  2. de fixer des objectifs et trajectoires intermédiaires de réduction des émissions de GES (par secteur ou selon d’autres méthodes pertinentes) qui sont considérés comme aptes à permettre, en principe, d’atteindre les objectifs nationaux globaux de réduction des émissions de GES dans les délais fixés par les politiques nationales
  3. de fournir des informations montrant si elles se sont dûment conformées aux objectifs pertinents de réduction des émissions de GES ou qu’elles s’y emploient (alinéas a) et b) ci-dessus) ;
  4. d’actualiser les objectifs pertinents de réduction des émissions de GES avec la diligence requise et en se fondant sur les meilleures données disponibles ; et
  5. d’agir en temps utile et de manière appropriée et cohérente dans l’élaboration et la mise en œuvre de la législation et des mesures pertinentes. »

 

Wie zu erwarten war, löste das Urteil heftige Reaktionen aus – sowohl solche der Begeisterung als auch der Empörung. Setzen wir uns dafür ein, dass es sachlich analysiert wird und dazu beiträgt, die schweizerische Klimapolitik zu stärken und zu beschleunigen. Es ist immer wieder zu betonen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein gemeinsames, kein «fremdes» Gericht. Seine Trägerschaft ist der Europarat. Die Schweiz ist Mitglied. Sie stellt, wie jedes Mitglied, einen Richter am EGMR.

Volk und Stände haben die EMRK 2018 eindrücklich demokratisch legitimiert, indem sie die «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP, die ihr die Geltung entzogen hätte, mit 66,3% Volksmehr und 100 % Ständemehr verwarfen. Die Schweiz weiss um den Wert des Menschenrechtsraums Europa – auch und erst recht, wenn er vermehrt bedrängt wird.

(Ich danke Frau Prof. Dr. Helen Keller, Universität Zürich, für ein klärendes Gespräch vor Abfassung dieses Artikels, den sie jedoch nicht mitverantwortet.)

 

Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT.

 

Dokumente:

Factsheet (Fiche thématique) des EGMR zum Klimawandel

 

Online-Veranstaltung:

Freitag, 12. April 2024: Université de Lausanne: Rapid Reaction Webinar: The First Climate Judgments at the European Court of Human Rights, 13:00 CEST (Lausanne time).

 

Artikel zum Thema:

Bericht von Dr. iur. h.c. Brigitte Hürlimann, Gerichtsberichterstatterin der «Republik».

Interview mit Prof. Dr. Evelyne Schmid, Universität Lausanne, bei Watson.

Interview mit Prof. Dr. Andreas Müller, Universität Basel, im Tagesanzeiger.

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