Theorie und Praxis verfassungsmässiger Gesetzgebung am Beispiel “Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung”
 
Von Ulrich Gut

 

Die Eidgenössischen Räte sind verpflichtet, Gesetze verfassungskonform zu erlassen. Dies gilt auch für die gesetzliche Umsetzung von Normen, die durch die Annahme einer Volksinitiative in die Bundesverfassung kamen. Aber da es in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, also niemand wegen Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes vor Gericht gehen kann (Artikel 190 der Bundesverfassung), ist das Parlament abschliessend zuständig, zu entscheiden, ob eine Gesetzesvorlage verfassungskonform ist. Faktisch gibt ihm dies eine grosse Freiheit, und es macht von ihr Gebrauch. Die Räte können die gesetzliche Umsetzung sogar verschleppen – absichtlich oder weil sie keine mehrheitsfähige Vorlage zustande bringen.

Ein Testfall ist die Umsetzung der Volksinitiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung». Sie wurde am 13. Februar 2022 mit 56.65% Ja-Stimmen und 15.0 von 23 Standesstimmen angenommen.

Vorab ist festzustellen, dass sich die Umsetzung bereits verzögert hat, da der Nationalrat als Zweitrat die Vorlage des Ständerates in der Schlussabstimmung ablehnte. Eine «unheilige Allianz» der aus Prinzip ablehnenden SVP mit Ratsmitgliedern, die den in die Verfassung eingegangenen Volkswillen ungenügend umgesetzt fanden, obsiegte am 29. Februar 2024 mit 121 zu 64 Stimmen. Die Vorlage ging an den Ständerat zurück, der sie am Montag, 16. September 2024 erneut beriet.
 
 
Das Volk entschied in Kenntnis der möglichen Konflikte mit anderen Verfassungsbestimmungen

In einem Brief vom 5. September 2024 an die Mitglieder des Ständerates setzte sich «Unser Recht» für eine verfassungsgemässe gesetzliche Umsetzung der angenommenen Volksinitiative ein. Auszug:

« Bekanntlich haben wir in der Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit, welche über die Verfassungsmässigkeit der gesetzgeberischen Arbeit der Bundesversammlung wacht. Gerade deshalb kommt dem Parlament – und namentlich dem Ständerat als «Chambre de réflexion» – traditionellerweise die hehre Aufgabe zu, den hierarchischen Vorrang der Bundesverfassung vor sämtlichen anderen Normstufen zu verteidigen.

Dies gilt insbesondere bei der Umsetzung von Verfassungsnormen, die klar und deutlich sind, bei denen im Abstimmungskampf die Folgen der Annahme einer Volksinitiative vom Bundesrat in der Botschaft unmissverständlich aufgezeigt wurden und das Volk in Kenntnis der möglichen Konflikte mit anderen Verfassungsbestimmungen abstimmen konnte, und bei denen keine Widersprüche zu völkerrechtlichen Verträgen entstanden sind. Mit der vorgelegten Teilrevision des Tabakproduktegesetzes hat der Bundesrat diese Prinzipien beachtet und – obschon er sich seinerzeit gegen die Volksinitiative eingesetzt hatte – eine verfassungskonforme Umsetzung vorgeschlagen. (…)

Vor diesem Hintergrund besteht weder Anlass noch Raum, den von Volk und Ständen angenommenen, klaren Auftrag in Art. 118 Abs. 2 lit. b BV durch eine harmonisierende Auslegung zu relativieren.»

Der Ständerat entschied nur teilweise in diesem Sinne. Die Vorlage geht nun wieder an den Nationalrat. Sollte er sie erneut ablehnen, wäre dieser Entscheid definitiv, und eine gesetzliche Umsetzung des neuen Verfassungsartikels bliebe auf unvorhersehbare Zeit aus.
 
 
«Der Ständerat nimmt sich einfach den Spielraum heraus, und das darf er auch»

Mehrere Ratsmitglieder gingen auf die Grundsatzfrage ein, inwieweit das Parament verpflichtet ist, sich in der Gesetzgebung an die Verfassung zu halten, auch wenn eine Verfassungsnorm aus einer angenommenen Volksinitiative hervorging. Einer verbreiteten Haltung gab der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann Ausdruck – deklamatorisches Bekenntnis zu Verfassung und Volkswillen, aber Anspruch auf «Spielraum»:

«Wir sind es nun wirklich auch den Initianten schuldig, dass man diese Volksinitiative umsetzt, in ihrem Willen, so weit als möglich. Aber wir dürfen und müssen auch den Spielraum des Gesetzgebers beachten. Es gibt auch noch andere Verfassungsbestimmungen; sonst erinnere ich Sie dann gerne wieder einmal daran, wie genau bei der Zuwanderungs-Initiative die Verfassung umgesetzt wurde. Der Gesetzgeber nimmt sich einfach den Spielraum heraus, und das darf er auch.»

Man muss diese Haltung in den Zusammenhang mit der Tatsache stellen, dass die Räte wiederholt die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit über Bundesgesetze ablehnten. Dabei wurde immer wieder betont, das Parlament sei Hüter der Verfassung, aber der  «Spielraum» verteidigt, den Ständerat Germann auf den Punkt brachte.

Zur Grundsatzfrage der verfassungskonformen Gesetzgebung äusserte sich Ständerat Pirmin Bischof (Mittepartei, Solothurn) als Sprecher der vorberatenden Ständeratskommission:

«Im Nationalrat wurde insbesondere die Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsvorschläge bestritten. Ihre Kommission hat deshalb zu dieser Frage Anhörungen gemacht. Sie wissen: Das Volk hat die Volksinitiative “Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung” sehr deutlich angenommen, entgegen den Beschlüssen von Bundesrat und Parlament. Es geht jetzt darum, diese neue Verfassungsbestimmung umzusetzen. Ihre Kommission hat einerseits ein Gutachten des BAG vom 18. Januar 2024, das mit dem Bundesamt für Justiz abgesprochen ist, vor sich. Andererseits hat die Kommission einen Experten und eine Expertin angefragt, einerseits Herrn Professor Urs Saxer und andererseits Frau Professorin Kerstin Noëlle Vokinger. An den beiden Anhörungen war die Unabhängigkeit der Experten eine Frage. Frau Professorin Vokinger hat ausgeführt, sie habe keinerlei Interessenkonflikte, also weder mit den Initiantinnen und Initianten noch mit der Tabakindustrie. Herr Professor Saxer hat dann auf Rückfrage bestätigt, dass er bereits Gutachten für die Initiativgegner verfasst habe».

 
«Den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern war klar, worüber sie abstimmten und welche Auswirkungen ein Ja hätte»

Ständerätin Flavia Wasserfallen (SP, Bern) stellte zunächst fest: «Den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern war klar, worüber sie abstimmen und welche Auswirkungen ein Ja hätte. Die Auslegung des Initiativtexts mit den Materialien – den Stellungnahmen der Behörden, den Aussagen der Gegnerinnen und Gegner sowie der Befürworter – ist, wie soeben auch von den Juristinnen und Juristen ausgeführt, entscheidend dafür, wie der Text in die Gesetzesbestimmung umgemünzt werden muss. Das war wirklich glasklar.»

Sie sah vier Möglichkeiten: «1: Wir entscheiden uns für eine verfassungskonforme Umsetzung. Das entspricht dem Entwurf des Bundesrates, den ich mit meinen Minderheitsanträgen aufgenommen habe; wir haben die Möglichkeit 2, ich nenne sie mal eine verfassungskonforme Umsetzung mit grosszügigen Ausnahmen. Das entspricht den Minderheitsanträgen Bischof; wir haben die Möglichkeit 3: Sie entscheiden sich für eine nicht verfassungskonforme Umsetzung mit sehr vielen Ausnahme. Das entspricht dem Willen der Mehrheit Ihrer Kommission; wir haben die Möglichkeit 4: Sie ignorieren ein Volksverdikt.» Sie bat den Rat, «einer verfassungskonformen Variante zuzustimmen; entweder der Möglichkeit 1, dem Entwurf des Bundesrates, also den Anträgen der Minderheit Wasserfallen Flavia, oder – knapp verfassungskonform – den Anträgen der Minderheit Bischof.»

In den meisten Abstimmungen setzte sich die Kommissionsmehrheit durch. Nun wird sich zeigen, ob dies im Nationalrat erneut zu einer ablehnenden «unheiligen Allianz» führt.

Sollte das Parlament mit den Argumenten des «Spielraumes des Gesetzgebers», wo dieser Spielraum nicht gegeben ist, und der «harmonisierenden Auslegung», wo kein Anlass dafür besteht, im Tabakproduktegesetz Ausnahmen vorsehen, wird es dem mit der erfolgreichen Initiative eingeleiteten Paradigmenwechsel vom Verbot der Tabakwerbung, welche sich an Kinder und Jugendliche richtet (gemäss dem von der Initiative in Frage gestellten geltenden Recht), hin zum Verbot der Tabakwerbung, welche Kinder und Jugendliche erreicht, in keiner Weise gerecht.

Das könnte bei zukünftigen Initianten den zweifelhaften Anreiz schaffen, die direkte Anwendbarkeit von Initiativtexten ausdrücklich vorzusehen oder ihre Anliegen detaillierter ausformulieren um dem Gesetzgeber keinen Spielraum mehr zu geben. Auch deshalb besteht ein erhebliches Interesse daran, eine angenommene Initiative verfassungskonform umzusetzen.
 
 
Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT. Er verfasste diesen Text unter Mitwirkung des Vorstands.