Zur Benennung des neuen Abkommenspakets zwischen «Kolonialvertrag» und «Bilaterale III»

Von Andreas Th. Müller

 

Am 20. Dezember 2024 verkündete der Bundesrat den «materiellen Abschluss» der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Die Abkommenstexte werden gegenwärtig übersetzt und endredigiert und erst mit Beginn des Vernehmlassungsverfahrens öffentlich gemacht, wohl im Juni 2025. Bemerkenswert ist, dass der Bundesrat bislang stets nur über «die Abkommen» oder «das Abkommenspaket» spricht (vgl. Medienmitteilung 20.12.2024; vgl. auch Bundesamt für Justiz, 27.5.2024, 3: «das Vertragspaket»). Das Kindlein hat also noch keinen wirklichen Namen bekommen.

«What’s in a Name?» «Was ist (schon) ein Name?» fragt Julia ihren Romeo im 2. Akt von Shakespeares Klassiker und will damit sagen, dass der verhasste Familienname der Montague, den ihr Geliebter trägt, doch keine unüberbrückbare Hürde bedeuten dürfe, dass es doch um die zugrundeliegende Qualität der Person gehen müsse.

Angesichts dessen sollte man sich über die Benennung des «Abkommenspakets» womöglich nicht zu sehr den Kopf zerbrechen. Und doch kursieren in der öffentlichen Debatte verschiedene Begriffe, die von den jeweils Sprechenden meist nicht zufällig gewählt werden, sondern in denen sich ein je unterschiedliches Verständnis des Pakets manifestiert. Die Bandbreite der Bezeichnungen reicht dabei von «Kolonialvertrag» («accord colonial») oder «Unterwerfungsvertrag» («traité de submission») über «Rahmenabkommen 2.0» oder «InstA 2.0» bis hin zu «Bilaterale III».

Vor diesem Hintergrund lohnt es, sich dem Abkommenspaket (soweit wir gegenwärtig darüber Bescheid wissen) aus terminologischer Sicht zu nähern und sich zu fragen, welcher Name denn nun am ehesten zu dem Kindlein passt – oder auf gar keinen Fall.

 

1. Institutionelle Regeln als Kern des Pakets – und doch nicht bloss «InstA 2.0»

Nach dem Scheitern des «Rahmenabkommens» oder «Institutionellen Abkommens» («InstA») im Mai 2021 gelang es dem Bundesrat, mit der EU zunächst Sondierungen und dann Verhandlungen über den sog. «Paketansatz» in Gang zu bringen. Unter anderem sollte durch eine Erweiterung der Verhandlungsmasse zusätzliche Flexibilität in die Verhandlungen gebracht werden. In Folge dessen liegen nunmehr in Weiterentwicklung des bilateralen Verhältnisses drei Abkommen zu neuen Themen auf dem Tisch: ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und zwei Marktzugangsabkommen (oder Binnenmarktabkommen) in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit (wobei letzteres als Zusatzprotokoll zum bestehenden Landwirtschaftsabkommen abgeschlossen werden soll).

Wie immer man zur politischen oder wirtschaftlichen Opportunität dieser neuen Abkommen stehen mag, haben sie in institutioneller Hinsicht für sich genommen keinen Neuheitswert, sondern fügen sich in das bestehende bzw. neu zu schaffende Regulativ ein. Hier ist vorgesehen, dass die erneuerten institutionellen Regeln für die fünf bereits bestehenden (Freizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft, Anerkennung von Konformitätsbewertungen) sowie die beiden neuen Marktzugangsabkommen (Strom, Lebensmittelsicherheit) gleichermassen gelten sollen.

Sucht man vor diesem Hintergrund nach einem geeigneten Namen für das Abkommenspaket insgesamt, gilt es vor allem jenen – weit umfangreicheren – Teil in den Blick zu nehmen, der nach den Worten des Bundesrates der Stabilisierung des bilateralen Wegs gewidmet ist (Medienmitteilung 20.12.2024). Blendet man die Verstetigung des Schweizer Kohäsionsbeitrages und die Institutionalisierung der Beteiligung an EU-Programmen zu Forschung, Bildung, Jugend, Sport, Kultur, etc. einmal aus, wird das Paket insbesondere durch die erneuerten institutionellen Regeln geprägt. Spätestens seit 2012 fordert die EU unablässig, dass die Modalitäten der Zusammenarbeit zwischen Bern und Brüssel angepasst werden, und zwar vor allem hinsichtlich dreier Punkte:

  • dynamische (nicht automatische) Rechtsübernahme statt dem bisherigen statischen Ansatz (wobei in der Dublin- und Schengen-Assoziierung schon jetzt die dynamische Rechtsübernahme gilt);
  • Gewährleistung, dass die aus dem EU-Recht übernommenen Regeln so ausgelegt werden wie in der EU (einheitliche Auslegung);
  • Einführung eines gerichtlichen Mechanismus, in dem Streitigkeiten über diese Fragen für beide Seiten verbindlich entschieden werden, wobei bei Regelungen, die aus dem EU-Recht übernommen sind, gewährleistet sein muss, dass die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union, des sog. «Europäischen Gerichtshofs» (EuGH) in Luxemburg beachtet wird.

Wie beim gescheiterten Rahmenabkommen geht es beim jetzigen Abkommenspaket mithin entscheidend um die Ausgestaltung des institutionellen Verhältnisses zwischen Schweiz und EU; die drei genannten Punkte waren ja auch bereits Teil des «InstA». Wäre es von daher nicht am redlichsten, das Abkommenspaket «Rahmenabkommen 2.0» oder «InstA 2.0» zu nennen? In der Sache ist dies durchaus nicht abwegig, doch fürchten manche, die dem Paket wohl meinen, dass dieses so mit dem gescheiterten Vorgängerprojekt schicksalshaft verknüpft werden könnte, und bevorzugen insofern einen anderen Namen.

Jenseits derartiger Überlegungen darf indes nicht unerwähnt bleiben, dass der Wechsel zum «Paketansatz» auch die Art und Weise verändert hat, wie die institutionellen Regeln in den gemeinsamen Abkommen verankert werden. Das InstA war dem (vor allem von EU-Seite bevorzugten) horizontalen Ansatz verpflichtet, d.h. ein einzelnes Abkommen – das «InstA» – hätte zentral die neuen institutionellen Regeln beinhaltet, die für alle davon erfassten Binnenmarktabkommen ihre Wirkung entfaltet hätten. Das neue Paket folgt dagegen dem (vom Bundesrat präferierten) vertikalen oder sektoriellen Ansatz, demzufolge in jedem der betroffenen (5+2) Marktzugangsabkommen im Wesentlichen gleich lautende institutionelle Regeln verankert werden, freilich mit der Möglichkeit, diese im jeweiligen Kontext zu spezifizieren und für den Einzelfall masszuschneidern. In der Substanz bringt dieser Strategiewechsel in der Regelungstechnik voraussichtlich wenige signifikante Änderungen, ist aber doch bemerkenswert. Auch insofern ist das verhandelte Abkommenspaket keine blosse Neuauflage des Rahmenabkommens, also nicht einfach ein «InstA 2.0».

Viel schwerer lasten auf dem verhandelten Vertragspaket aber ohnehin Namenszuschreibungen vor allem von SVP-Seite: es gehe dabei nüchtern betrachtet um einen «Kolonialvertrag» oder «Unterwerfungsvertrag». Was ist davon zu halten? Handelt es sich hier um eine lediglich politisch motivierte, medienwirksame façon de parler von Fundamentalgegnern des «bilateralen Wegs» oder steckt doch mehr dahinter?

 

2. «Kolonialvertrag»?

Der Begriff des «Kolonialvertrags» kennt keine eindeutige Definition, stellt aber einen deutlichen – und gewollten – negativ konnotierten Zusammenhang zur Zeit des Kolonialismus her. Insbesondere drängt sich ein Bezug zu den sog. «ungleichen Verträgen» («unequal treaties») zwischen den europäischen Staaten und den USA einerseits und asiatischen Staaten, namentlich China, andererseits auf, deren Abschluss erstere regelmässig durch (Drohung mit) Waffengewalt erzwangen. Solche völkerrechtlichen Verträge sind nach heutigem Völkerrecht nichtig (Artikel 52 Wiener Vertragsrechtskonvention).

Bei näherem Besehen vertritt niemand, dass die Schweiz von der EU in diesem Sinne zum Abschluss des Abkommenspakets «gezwungen» würde. Dagegen steht manchen von «Brüssel» ausgeübter politischer oder wirtschaftlicher Druck vor Augen, der als unangemessen oder unfair empfunden wird (z.B. Nichtaufdatieren der Anhänge des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen – MRA, namentlich für Medizinprodukte). In diesem Zusammenhang «Kolonialvertrag» als für die Mobilisierung im öffentlichen Diskurs besonders tauglich scheinenden Kampfbegriff zu verwenden, ist indes nicht nur juristisch unzutreffend, sondern zeugt im Hinblick auf die Gräuel der europäischen Kolonialherrschaft auch in historischer Perspektive von fehlender Sensibilität. Der Terminus «Kolonialvertrag» wird, so man ihn für das neue Abkommenspaket verwendet, sowohl rechtlich als auch geschichtlich brutal aus dem Zusammenhang gerissen und sollte demzufolge aus dem Begriffsrepertoire in einer an der Substanz des Pakets interessierten Diskussion konsequent gestrichen werden.

 

3. «Unterwerfungsvertrag»?

Schon anspruchsvoller stellt sich die Lage beim Begriff «Unterwerfungsvertrag» dar. Er ist zwar in der Alltagssprache eindeutig negativ konnotiert. Dennoch lässt sich im rechtlichen Kontext sinnvoll sagen, dass ein Vertrag, mittels dessen ein souveräner Staat in freier und bewusster Entscheidung Rechte überträgt, ein Element der «Unterwerfung» («submission») enthält. Schaffen Staaten etwa eine internationale Gerichtsbarkeit, «unterwerfen» sie sich der Rechtsprechung des internationalen Gerichts oder Schiedsgerichts, z.B. die Schweiz dem Internationalen Gerichtshof in Artikel 94(1) UN-Charta oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Artikel 46(1) EMRK. Im gleichen Sinne könnte – und müsste man – dann auch die UN-Charta oder die EMRK einen «Unterwerfungsvertrag» nennen.

Ob dies eine glückliche und überzeugende Begriffswahl ist, darf bezweifelt werden. Wird der Begriff «Unterwerfung» nämlich aus seinem spezifisch völkerrechtlichen Verständnishorizont gerissen, gerät schnell in Vergessenheit, dass die «Unterwerfung» mit Wissen und Willen des übertragenden Staates geschieht – typischerweise weil dieser sich im Gegenzug Vorteile verspricht, die die damit verbundene Souveränitätsbeschränkung angemessen erscheinen lassen. Für die meisten tönt «Unterwerfung» aber nach einem letztlich unfreiwilligen Nachgeben und Sich-Unterordnen – und einmal mehr macht just dieser Aspekt die Attraktivität des Begriffs im öffentlichen Diskurs aus.

Allzu leichtfertig darf man sich des Begriffs freilich nicht entledigen. Denn beim IGH und EGMR unterwirft sich ein Staat einer Gerichtsbarkeit, die von allen Vertragsparteien gemeinsam geschaffen, verwaltet und mit Mitgliedern beschickt wird (so amtet ein Schweizer Richter im EGMR und wirkt an den die Schweiz betreffenden Verfahren mit). Im EuGH dagegen gibt es kein Schweizer Mitglied; er funktioniert allein nach den Regeln der EU-Verträge. Ist der EuGH insofern nicht – im Gegensatz zu IGH und EGMR – just das «Gericht der Gegenpartei» und damit wirklich eine Ansammlung «fremder Richter»? Und schafft das nunmehr fertig ausverhandelte Vertragswerk nicht eine grundsätzliche Asymmetrie in dem Sinne, dass die Schweiz zwar die EU-Regeln übernehmen und in Übereinstimmung mit der EuGH-Rechtsprechung auslegen und anwenden muss, aber nicht umgekehrt? Weshalb soll denn nicht die EU Schweizer Vorschriften übernehmen oder der EuGH der Judikatur des Bundesgerichts folgen? Oder noch besser: Weshalb behalten beide Seiten nicht einfach ihre Standards und ihre Gerichte und erklären sie wechselseitig für gleichwertig?

Tatsächlich sind die institutionellen Regeln nicht symmetrisch gestaltet. Das mutet aus Sicht des Völkerrechts und des Grundsatzes der souveränen Gleichheit der Staaten seltsam oder zumindest erklärungsbedürftig an. Vor diesem Hintergrund ist es also keineswegs unberechtigt zu fragen, ob es sich hier nicht doch um die «Unterwerfung» der einen unter die andere Seite oder zumindest eine problematische Schieflage handelt. Weshalb das Abkommenspaket nicht konsequent «auf Augenhöhe» ausgestalten? So geschieht dies doch auch, so ein immer wieder verwendetes Argument, bei Freihandelsabkommen?

 

3.1 Assoziierung in den Binnenmarkt der EU

Der Grund hierfür liegt in der Intensität der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Schweiz und EU. Freihandelsabkommen begünstigen zwar den grenzüberschreitenden Austausch von Waren und Dienstleistungen in oft erheblichem Umfang. Jedoch ist die Qualität bei der Einbindung in einen Binnenmarkt wie jenen der EU eine andere. Hier geht es um die möglichst freie und ungehinderte Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen, frei von tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen, aber auch von selbstständig und unselbstständig Tätigen. Für alle Marktbeteiligten soll es ein «level playing field» geben, «gleich lange Spiesse». Das verlangt nach Homogenisierung der Marktbedingungen, d.h. einem vereinheitlichten oder zumindest deutlich angenäherten Regulierungsniveau in den vom Binnenmarkt erfassten Bereichen. Und deshalb nennt man derartige Abkommen auch – eigentlich ganz selbstverständlich – «Marktzugangsabkommen», weil sie eben dem betreffenden Land (der Schweiz) einen Zugang zum Binnenmarkt (der EU) eröffnen, oder synonym von «Assoziierung». Die EU spricht aus ihrer Sicht konsequenterweise vom «erweiterten Binnenmarkt». Das schafft in der Tat eine asymmetrische Situation.

Ob ein souveräner Staat wie die Schweiz eine so intensive Zusammenarbeitsform im Wirtschaftsbereich für opportun hält, etwa weil man sich davon besseren Zugang zu zentralen Exportmärkten oder qualifizierten Arbeitskräften erwartet, ist eine politische Grundsatzentscheidung, bei der man sich so oder anders positionieren kann. Entscheidet man sich aber für die Teilnahme an einem Binnenmarkt, geht Hand in Hand mit den dadurch generierten Vorteilen regelmässig die Übernahme von (eben auch asymmetrischen) Verpflichtungen bis hin zur Zahlung einer Gegenleistung für den Zugang zum Binnenmarkt (Stichwort «Schweizer Beitrag»).

Wichtig ist, dabei die Unterscheidung im Blick zu behalten, was auf der einen Seite eine Frage von Verhandlungsmacht und Verhandlungsgeschick ist (etwa die Höhe des «Beitrages») und was auf der anderen Seite rechtliche Implikationen einer derartig intensiven Form der wirtschaftlichen Vernetzung sind, derer man sich nur entledigen kann, wenn man ein «downgrade» der Beziehungen auf Freihandelsniveau vollzieht, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen: Hier kann man den Fünfer und das Weggli nicht gleichzeitig haben.

 

3.2 Rechtliche Implikationen der Binnenmarktassoziierung

Was sind nun aber diese rechtlichen Implikationen? Es geht dabei vor allem um Mechanismen, die gewährleisten, dass die nötige Homogenität für das Funktionieren des Binnenmarkts ohne unerwünschte Marktverzerrungen gesichert ist. Dazu gehört, dass relevante regulatorische Veränderungen im gesamten Binnenmarkt nachvollzogen werden. Im Assoziierungskontext übersetzt sich dies in die Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme.

Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die einschlägigen Standards überall im Binnenmarkt einheitlich angewendet werden. Gerade diesem Element misst der EuGH in seiner Rechtsprechung grosse Bedeutung bei – und beansprucht für sich seit jeher das letzte Wort bei der Auslegung entscheidender Binnenmarktkonzepte: Wer ist «Arbeitnehmerin»? Wann liegt eine «Diskriminierung» vor? Was ist «öffentliche Ordnung»? etc.

Ist die Auslegung eines durch das EU-Recht geprägten Begriffs – was das Abkommenspaket «concepts of EU law» («Begriffe des Unionsrechts») nennt – für die Entscheidung eines Streitfalls relevant, muss der EuGH nach unionsverfassungsrechtlichen Vorgaben Gelegenheit haben, sich zu diesem Aspekt verbindlich zu äussern. Nur so ist, wie der EuGH betont, die Autonomie der Unionsrechtsordnung und sein eigenes Auslegungsmonopol für das EU-Recht verbürgt. Innerhalb der EU wird dies über das sog. Vorabentscheidungsverfahren (Artikel 267 AEUV) verwirklicht, demzufolge unterinstanzliche Gerichte dem EuGH Fragen zur Auslegung von EU-Recht vorlegen können, letztinstanzliche Gerichte dies aber tun müssen.

Im Assoziierungsrecht ist das entsprechende Modell durch Artikel 174 des Austrittsabkommens von 2020 zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU (Brexit-Abkommen) vorgezeichnet. Demnach muss das den Streitfall entscheidende paritätisch besetzte Schiedsgericht, wenn es um «concepts of Union law» geht, den EuGH für eine verbindliche Auslegungsentscheidung anrufen. Diesem Modell folgte im Verhältnis Schweiz-EU bereits der Entwurf des Rahmenabkommens und nunmehr auch das fertig verhandelte Abkommenspaket (Factsheet Institutionelle Elemente).

Die Eröffnung des Zugangs zum EU-Binnenmarkt geht insoweit Hand in Hand mit der Rückbindung an die EuGH-Rechtsprechung, um so die nötige Homogenität der Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt zu gewährleisten. Diese Rückbindung steht nicht zur politischen Disposition der Kommission als Verhandlungsführerin auf Seiten der EU, sondern ist ihr als Baustein der EU-Verfassung vorgegeben – wie dem Bundesrat die Regeln der Bundesverfassung. Geht die Kommission über die ihr diesbezüglich gesetzten rechtlichen Grenzen hinaus, droht die Nichtigerklärung des Abkommens Schweiz-EU durch den EuGH, sei es schon vorweg (im Rahmen einer Vorabprüfung im Gutachtensverfahren nach Artikel 218(11) AEUV), sei es in weiterer Folge (im Zuge einer Vorlage durch ein nationales Gericht eines EU-Mitgliedstaats).

Wenn man bisweilen hört, bei den Schiedsgerichten, die im Rahmen des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada (CETA) oder in vergleichbaren Abkommen eingerichtet werden, sei doch kein Vorlagemechanismus an den EuGH vorgesehen, so bedeutet das keine Ausnahme, sondern vielmehr eine Bestätigung der Regel – denn in diesen Fällen geht es gerade nicht um den Zugang zum EU-Binnenmarkt, sondern eben um «blosse» Freihandelsabkommen, die keine vergleichbare Intensität zur Binnenmarktassoziierung der Schweiz aufweisen.

Einen echten Spezialfall bietet dagegen der EFTA-Gerichtshof, der für die Zwecke der Binnenmarktassoziierung von Liechtenstein, Island und Norwegen im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) als gerichtliches Letztentscheidungsorgan operiert. In diesem Fall werden aber durch eine Reihe von Mechanismen die nötige Homogenität und der rechtliche Gleichlauf mit der EuGH-Rechtsprechung hergestellt, d.h. in indirekter, aber dennoch wirksamer Weise und jedenfalls so, dass der EuGH dieses Modell aus unionsverfassungsrechtlicher Sicht als funktional äquivalente Lösung akzeptiert hat.

Also: Anders als über ein Modell, das dem EuGH (wenigstens indirekt) das letzte Wort bei der Auslegung von Binnenmarktkonzepten gibt, ist eine Binnenmarktbeteiligung aus unionsverfassungsrechtlichen Gründen nicht zu haben. Diesbezüglich werden auch alle Beteiligten am «erweiterten Binnenmarkt» der EU gleich behandelt: die drei genannten EWR-Staaten, die Kleinstaaten Andorra, San Marino und Monaco (wo ein dem in Artikel 267 AEUV vergleichbarer Vorlagemechanismus in einem Assoziierungsabkommen mit den beiden erstgenannten Staaten erst jüngst fixiert wurde), das Vereinigte Königreich (sofern nach dem Brexit-Abkommen, also der «Scheidungsvereinbarung» mit der EU Binnenmarktregelungen «nachwirken») – und eben die Schweiz mit der dem Brexit-Abkommen nachgebildeten Lösung der Entscheidung von Streitigkeiten durch ein paritätisch besetztes Schiedsgericht mit Vorlagepflicht an den EuGH in EU-rechtlich relevanten Fällen. Der EuGH handelt diesbezüglich eben nicht als «Gericht der Gegenpartei», sondern vielmehr als «Gericht des EU-Binnenmarktes».

An der Asymmetrie der Vertragsbeziehung ändert dies freilich nichts. Sie ist integrierender Bestandteil der Beteiligung eines Drittstaats am Binnenmarkt der EU. Bei der Ausgestaltung der inhaltlichen Reichweite der Integration in den Binnenmarkt bestehen dagegen erhebliche Gestaltungsspielräume, wie gerade das Schweizer Beispiel illustriert. Wenn immer aber ein Binnenmarktzugang angestrebt wird (und das betrifft für die Zukunft auch die Bereiche Strom und Lebensmittelsicherheit), geht dies Hand in Hand mit den entsprechenden institutionellen Vorkehrungen, namentlich der Einbindung des EuGH, insoweit es um durch das Unionsrecht geprägte Begriffe geht.

Ist dies eine «Unterwerfung» unter die EU? Aus den oben genannten Gründen ist der Begriff im öffentlichen Diskurs nicht hilfreich, ja irreführend. Erkenntnisgewinn und Unterscheidungskraft verspricht seine Verwendung daher nicht.

 

4. «Bilaterale III»?

Und was ist mit dem vor allen von Befürworterseite bevorzugten Begriff der «Bilateralen III»? Er suggeriert, dass die im Wesentlichen bewährten Vertragswerke der Bilateralen I (1999) und der Bilateralen II (2004) in organischer Weise fortgeschrieben und weiterentwickelt werden, sodass die «Bilateralen III» gleichsam als jüngstes der Geschwister in die grosse «Abkommensfamilie» eintreten. Ist dieses Etikett aber durch die Substanz des Pakets gedeckt?

Insoweit das neue Abkommenspaket tatsächlich einen relevanten Schritt zur Stabilisierung und Weiterentwicklung des besonderen «bilateralen Weges» darstellt, wie er sich zwischen der Schweiz und der EU entwickelt hat, scheint der Begriff nicht unangemessen. Gleichzeitig besteht ein wichtiger Unterschied zu den Bilateralen I und II darin, dass, wie oben gezeigt, den Schwerpunkt des jetzt verhandelten Pakets nicht die neuen Felder inhaltlicher Zusammenarbeit (Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit) bilden und auch nicht die gleichwohl bedeutsame inhaltliche Anpassung bestehender Abkommen (z.B. im Bereich der Personenfreizügigkeit durch die differenzierte Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie der EU), sondern die erneuerten institutionellen Regeln.

Nun enthalten schon die bestehenden bilateralen Abkommen verschiedene Regelungen institutionellen Charakters, die aber vor allem auf die Gemischten Ausschüsse als (letztlich politischen) Streitbeilegungsmechanismus setzen. (Schieds-)gerichtliche Elemente finden sich in den gegenwärtigen Abkommen lediglich punktuell (vor allem im Luftverkehrsabkommen). Auch die dynamische Rechtsübernahme ist gegenwärtig nur im Bereich der Schengen- und Dublin-Assoziierung vorgesehen und wird mit dem Abkommenspaket nunmehr auf die betroffenen 5+2 Marktzugangsabkommen ausgedehnt. Insofern bringt es gerade im institutionellen Bereich relevante Neuerungen. Trägt man dem entsprechend Rechnung, ist man mit der Bezeichnung «Bilaterale III» in der Sache nicht am Holzweg.

 

5. Wie weiter?

All diese Überlegungen bieten freilich nur eine gewisse Orientierung in der laufenden Diskussion zum Abkommenspaket. Von entscheidender Bedeutung wird sein, was die Abkommenstexte selbst zur Namensfrage beisteuern und wie sich der Bundesrat in seiner Botschaft dazu positionieren wird. In einigen Monaten wird man mehr wissen.

 

Der Verfasser dankt Herr Leon Calabrese BSc für die Unterstützung bei der Dokumentierung des vorliegenden Beitrages.

 

Andreas Th. Müller ist Professor für Europarecht, Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Europäisches Verfassungsrecht, Europäisches Wirtschaftsrecht, Differenzierte Integration EU-Schweiz und das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht/Europarecht.