Aber die Berufung aus dem EU-Gerichtshof ist verfehlt.

Am Ende eines Artikels über die Rechtspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Suizidhilfe beseitigt Christoph Blocher persönlich jeden Zweifel daran, dass die SVP mit der Volksinitiative “Schweizer Recht statt fremde Richter” die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Schweiz anstrebt. Blocher schreibt:

“So hat auch der europäische Gerichtshof (EuGH) in einem Gutachten zuhanden der EU-Kommission dargelegt, dass die EU der Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) nicht beitreten dürfe, weil die EU dann dem EGMR und nicht dem EuGH unterstellt wäre. Damit würde die Souveränität – d.h. die Selbstbestimmung der EU – verletzt.

Was für die EU-Souveränität gilt, muss auch für die Schweiz gelten. Genau das verlangt die Selbstbestimmungsinitiative.”

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Was ist dazu zu sagen?

In der Debatte über die neue SVP-Initiative geht es um die Vereinbarkeit der EMRK mit dem Souveränitätsverständnis von Einzelstaaten. Alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats erachteten bisher die Zugehörigkeit zur EMRK und die damit verbundene Pflicht, den Urteilen des gemeinsamen Menschenrechtsgerichtshofs in Strassburg Nachachtung zu verschaffen, als vereinbar mit ihrem Souveränitätsverständnis; Grossbritannien schickt sich nun an, sich abzuwenden. In historischer Perspektive erkannten die Europarats-Staaten in dieser Selbstbeschränkung einen gemeinsam errichteten Schutzwall gegenüber Rückfällen einzelner europäischer Staaten in autoritäre  Verhaltensmuster. Autoritäre Staaten sind erfahrungsgemäss auch in ihren Aussenbeziehungen Risikofaktoren: Wer gegen sein Staatsvolk keine Rechts-, sondern nur Machtbeziehungen pflegt, neigt dazu, dies auch gegen aussen zu tun. Die Bejahung eines europäischen Menschenrechtsraums trägt somit bei zum Schutz der Souveränität der Mitgliedstaaten vor Aggressionen Anderer.

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Der Entscheid des EU-Gerichtshofs in Luxemburg taugt nicht als Argument für Blochers Absage an europaweiten Menschenrechtsschutz. Die EU hat eine eigene Gerichtsbarkeit aufgebaut, mit dem EU-Gerichtshof in Luxemburg, der die EU-Menschenrechtscharta anwendet. Der EU-Gerichtshof hält den Anspruch hoch, die Menschenrechte gegenüber den EU-Organen selber zu schützen, und zwar als Verfassungsgericht der EU. Damit stellt er keineswegs die Strassburger Gerichtsbarkeit für die einzelnen EU-Staaten in Frage. im Gegenteil: Er sieht eine ergänzende Beziehungen zwischen den beiden Gerichten.

Der von Blocher herbeigezogene Entscheid wurde heftig kritisiert. Ulrich Haltern, Professor für Europa- und Völkerrecht an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br., erläuterte ihn in der NZZ, und seine Ausführungen enthalten interessante kritische Ansätze für die weitere Reform der Strassburger Gerichtsbarkeit:

 “(…) Natürlich handelt es sich um einen machtbewahrenden Handstreich aus Luxemburg – aber nicht zum Selbstzweck. Der EuGH benötigt diese Macht, um eine weder dauerhaft noch automatisch strapazierfähige Judikativ-Architektur stabil zu halten. Er braucht Kraft, um die manchmal widerspenstigen Gegenspieler aufseiten der Mitgliedstaaten auf seine Seite zu ziehen bzw. in den Rechtsgehorsam zu zwingen. Das betrifft politische Organe und vor allem auch die mitgliedstaatlichen Gerichte, von deren freiwilliger Kooperation alles abhängt. Nur ein starker EuGH ist hierzu in der Lage; eine Entmachtung, so fürchtet der EuGH, schwächt mehr als nur ihn selbst. Es ist auch nicht wirklich viel verloren, der Grundrechtsschutz ist auch so gegeben: Die Mitgliedstaaten verfügen über eigene Verfassungsgrundrechte und sind überdies an die EMRK gebunden; die EU verfügt über eine eigene Grundrechte-Charta sowie über eine jahrzehntelange differenzierte Grundrechte-Rechtsprechung des EuGH. Diese stützt sich ausdrücklich auch auf die EMRK, ebenso wie die Grundrechte-Charta eine Homogenitätsklausel in Hinsicht auf die EMRK enthält.

 Der EMRK nicht sofort beitreten zu können, bedeutet also keineswegs, dass die Grundrechte künftig mit Füssen getreten werden. Dort, wo eine eingeschränkte Zuständigkeit des EuGH besteht – in der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik –, kann man gute Gründe dafür finden, dass nicht jede einzelne Handlung am Massstab der Grundrechte durchjudiziert werden muss, und zudem gibt es bereits jetzt eine Kontroll-Rechtsprechung des EGMR, die auch Handlungen der EU im Blickfeld hat.

 Um Missverständnissen vorzubeugen: Grundrechte sind essenziell für den demokratischen Rechtsstaat. Aber sie fallen nicht vom Himmel, sondern sind die zu Rechten geronnenen Aushandlungen der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft darüber, wie Individual- und Kollektivinteressen auszutarieren sind. Warum aber sollte für die EU ein externer Grundrechtemassstab von vornherein positiv oder gar notwendig sein? Warum sollte Strassburg hier besser positioniert sein als Luxemburg? Warum sollte die losere Staatenverbindung – die EMRK, der auch Russland und die Türkei angehören – die engere Staatenverbindung präjudizieren können? Warum einem Gericht den Vorrang überlassen, das weniger als der EuGH auf Rechtsbefolgung setzen kann, das bereits jetzt überlastet ist und das sich zudem nicht gerade durch eine durchgängig überzeugende und kohärente Rechtsprechung hervortut?

 Ebendies schreibt der EuGH kaum verklausuliert auf: Die EU ist eine verfassungsrechtliche Organisation, der EuGH ein Verfassungsgericht. Noch nie hat der EuGH dies so häufig ausdrücklich gesagt. Dies ist der eigentliche Hintergrund des Gutachtens: Der EuGH bestraft den Anspruch von EMRK und EGMR, gleichfalls verfassungsrechtlicher Natur sein zu wollen, als Hybris. Verfassungsneid zahlt sich nicht aus, auch dann nicht, wenn er auf der moralischen Welle des Menschenrechtsschutzes reitet. Nachdenklich stimmt freilich, dass der EuGH einen einstimmigen politischen und rechtlichen Konsens der höchsten Unionsinstanz, der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge, vom Tisch fegt. Aber ebendies ist das Wesen von Verfassungsgerichten, die der Souveränität ihre eigene Rechtsauslegung entgegenstellen und damit obsiegen. Die Geister, die man rief, werden die Mitgliedstaaten jetzt nicht mehr los. Und eigentlich sind wir darauf ja auch stolz.”

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