Keine Modeerscheinung, sondern eine Notwendigkeit

Von Martine Brunschwig Graf
(Übersetzung aus dem Französischen)

 

In einer Umfrage, die vom 24. bis 26. Januar 2024 vom SWG-Institut unter 800 Personen durchgeführt wurde, waren 16% der Befragten der Ansicht, dass “Affenschreie oder das Werfen von Bananen auf schwarze Spieler” normal sei, wenn man eine Sportmannschaft unterstütze. Ähnlich hoch war der Anteil derjenigen Personen, die angaben, dass es einem als Anhänger einer Mannschaft erlaubt sei, einen Spieler als “Zigeuner” oder “Jude” zu bezeichnen” (18%) oder “einen Spieler aufgrund seiner Nationalität oder Herkunft zu beleidigen” (18%).

 

Der Kampf gegen Rassismus ist Bürgerpflicht

Diese Art, diskriminierende Aussagen und Angriffe auf die Würde bestimmter Personengruppen zu relativieren, ist nicht einmalig. Es handelt sich um eine Interpretationsweise, die regelmässig in sozialen Netzwerken und in Kommentaren zu Artikeln auf den Webseten der Medien zu finden ist. Das Phänomen ist auch nicht neu, aber es hat sich verstärkt.

Diejenigen, die sich daran stören, werden oft als “woke” bezeichnet. Ursprünglich bedeutet “Wokismus” einen Zustand des Erwachens, der sich in erster Linie auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Rassendiskriminierung bezieht. Der Begriff hat heute eine andere Bedeutung, sowohl für diejenigen, die sich zum Wokismus bekennen, als auch für diejenigen, die ihn bekämpfen und sogar in politische Programme einbringen. Diese Debatte kann nur zu einem Exzess führen und verschleiert leider die Notwendigkeit, dass unsere Gesellschaft jede Form von Rassismus und Rassendiskriminierung ablehnen muss.

Der Kampf gegen Rassismus darf nicht zu einem Thema der Spaltung werden, denn er ist in Wirklichkeit eine Bürgerverantwortung, die in direkter Verbindung zu einem der Grundrechte unserer Bundesverfassung steht, beschrieben in Artikel 8, Absatz 2: “Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.”

Das Recht eines jeden, vor Diskriminierung geschützt zu werden, bringt die Verpflichtung mit sich, dieses Recht gegenüber anderen zu respektieren, die Befugnis, es für sich selbst einzufordern, aber, in einer demokratischen und offenen Gesellschaft, auch das Gefühl, an der Durchsetzung dieses Rechts beteiligt zu sein. Für alle, die daran zweifeln: Artikel 7 der Bundesverfassung, der besagt, dass “die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist”, fasst in einem Satz zusammen, was uns alle im Alltag und auf Dauer verbindet.

Die Meinungsumfrage, auf die am Anfang dieses Artikels Bezug genommen wird, ist nur ein Beispiel für die Geisteshaltung, die in Sportkreisen, im Schulbereich, am Arbeitsplatz oder an anderen Orten des täglichen Lebens zu finden ist.

Rassismus und rassistische Diskriminierung sind weder eine Frage des Ortes noch der Zeit. Sie können zu jeder Zeit und an jedem Ort auftreten. Um sie zu verhindern, muss man in der Lage sein, rassistische Äusserungen und Handlungen zu identifizieren und sie als solche anzuerkennen. Leugnen oder Verharmlosen – aus Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder Feigheit – ist eine ständige Versuchung.

 

Der Kampf gegen die Trägheit

Während meiner 12-jährigen Amtszeit als Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus habe ich die Macht der Trägheit immer wieder erlebt. Sie stand der Energie gegenüber, die gleichzeitig von denjenigen aufgewendet wird, die sich unermüdlich für die Prävention einsetzen und sich immer wieder die Frage stellen: Wie können wir alle dazu ermutigen, sich als Teil des Kampfes gegen Rassismus zu fühlen; genug, um den Mut zu haben, zu reagieren, wenn es erforderlich ist, das Wort zu ergreifen, wenn es nötig ist, und zu unterstützen, wenn es unerlässlich ist? Wie regelmässige Umfragen des Bundesamtes für Statistik (Umfrage “Zusammenleben in der Schweiz”) zeigen, sind sich 6 von 10 Personen bewusst darüber, dass Rassismus ein soziales Problem ist, das es anzugehen gilt. Die Befragten erwarten vom Staat in erster Linie, dass er im Bereich der Bekämpfung und Prävention tätig wird. Einzelpersonen stehen in der Reihenfolge der erwarteten Akteure erst an dritter Stelle. Und doch waren es die Bürgerinnen und Bürger, die – sogar zweimal – an die Urne gerufen wurden, um über die Aufnahme von Artikel 261bis, der Rassismus und Rassendiskriminierung unter Strafe stellt, ins Schweizer Strafgesetzbuch zu befinden. Unsere Politik in diesem Bereich beruht also auf dem Volkswillen. Dieser Wille muss an der Urne, aber auch im täglichen Leben zum Ausdruck kommen können. Was würde eine antirassistische Strafnorm sonst nützen? Ihre Wirksamkeit hängt nicht in erster Linie von Richterinnen und Richtern ab, sondern von der Überzeugung jedes Einzelnen, dass es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen, und dass man nicht ohne weiteres gleichgültig bleiben kann, wenn diese Grenzen überschritten werden.

Schlussendlich muss man sich daran erinnern, dass das Strafgesetzbuch die letzte Verteidigungslinie ist. Rassistische Worte und Taten können strafrechtlich nicht relevant, aber dennoch inakzeptabel sein. Gerade hier müssen die Bürgerinnen und Bürger wachsam bleiben. Wir haben das besonders während der Pandemie festgestellt. Die Suche nach Sündenböcken, die Verbreitung von Verschwörungstheorien, die Zunahme antisemitischer Verallgemeinerungen, das Misstrauen und die Ablehnung gegenüber Personen asiatischer Herkunft – all dies hat sich in sozialen Netzwerken, im Internet und manchmal auf der Strasse gezeigt.

 

Die Krise machte Rassismus sichtbar

Die COVID-Krise hat Rassismus an den Tag gebracht. Die Gesellschaft ist verletzlich, wenn man ihr nicht Sorge trägt. Sie kann leicht unter Druck geraten, wenn die Zeiten hart sind. Umso wichtiger ist es daher, dass jeder seinen Teil der Verantwortung übernimmt, um sicherzustellen, dass die Grundrechte eingehalten werden.

Der Konflikt im Nahen Osten macht Rassismus ebenfalls sichtbar. Die antisemitischen Vorfälle haben sich verzehnfacht, ein orthodoxer Jude wurde in Zürich niedergestochen. Auch hier genügt es nicht, dies zu bedauern. Antisemitismus ist eine Realität in der Schweiz; er nimmt verschiedene Formen an, er äussert sich in Krisenzeiten sichtbarer und nachhaltiger, aber er ist in unauffälligerer Form seit Jahrhunderten präsent, in der Schweiz und anderswo. Die Tatsache, dass er nie verschwunden ist, muss uns aufhorchen lassen, denn auch sie ist eine Folge von Schweigen, Gleichgültigkeit und Unwissenheit.

Das bringt uns zur Feststellung, dass Prävention Sensibilisierung, Kenntnisse und Verständnis der Phänomene erfordert. Man muss also zu den Quellen zurückkehren, zur Schule, zur Lehrerausbildung, zu Lehrplänen, die sich nicht scheuen, die Dinge beim Namen zu nennen, und zu angemessenen Schulbüchern. Dies ist eine Herausforderung, der sich die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus zusammen mit anderen Akteuren gestellt hat. Ohne politisches Bewusstsein und ohne das Engagement der Behörden kann jedoch nichts getan werden. Auch hier gilt es, die Defizite zu erkennen und zu beheben.

 

Meinungsäusserungsfreiheit und Kampf gegen Rassismus in Einklang bringen: Eine ständige Herausforderung

Ein Sprichwort besagt, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit der anderen beginnt. Niemand kennt den Urheber dieses Spruchs, aber jeder versteht, dass individuelle Freiheit nicht die Freiheit eines Einzelnen in Gegnerschaft zu allen anderen ist, sondern die Freiheit eines jeden bei gleichzeitiger Achtung aller anderen.

Dieses Sprichwort kann uns auch Denkanstösse geben zum Umgang mit dem Gegensatz zwischen Meinungsäusserungsfreiheit – einem unserer grundlegenden Freiheitsrechte – und einem unserer Grundrechte, nämlich dem Recht, von anderen Menschen und der Gesamtgesellschaft respektiert zu werden. Das Recht auf Meinungsäusserung ist nämlich nicht grenzenlos, sondern endet dort, wo das Recht auf Würde bedroht ist.

Wenn man die Bundesgesetzgebung konsultiert, stellt man fest, dass die Menschenwürde hauptsächlich in zwei Gesetzen erscheint; das eine behandelt die medizinisch unterstützte Fortpflanzung und das andere die Forschung an Stammzellen. Im Gegensatz dazu bezieht sich das Tierschutzgesetz in seinem Artikel 1 klar auf die Würde des Tieres. Man kann also nicht sagen, dass der Gesetzgeber in seinen Texten der Menschenwürde viel Raum gegeben hätte. Das macht letztere jedoch nicht weniger wichtig. Wäre die Meinungsäusserungsfreiheit ohne jegliche Grenzen, könnte das verfassungsmässige Mandat des Artikels 7 nicht vollständig erfüllt werden.

Ein Blick in das Verzeichnis der Urteile, die unter Bezugnahme auf die Diskriminierungsstrafnorm gefällt wurden, zeigt, dass die Auslegung der Norm durch die Gerichte eher restriktiv ist, und ihre Grenzen im Vergleich zu denjenigen der Meinungsfreiheit weit gefasst sind. Dieser von den Justizbehörden gewählte Ansatz zeigt, dass die Befürchtungen der Gegner des Artikels 261bis unbegründet sind.

Wir brauchen heute mehr denn je einen Schutz vor Worten und Taten, welche die Menschenwürde verletzen. Dies als gerechte Kompensation dafür, dass die Gedanken- und Meinungsfreiheit meist privilegiert wird, wenn Richterinnen und Richter sie gegen andere Rechte abwägen müssen. Freiheit ist ein zentraler Wert unserer demokratischen Gesellschaft, aber sie ist nicht der einzige: Respekt ist auch einer, ebenso wie Verantwortung. Das Gesetz ist eine Notwendigkeit, das persönliche Engagement unverzichtbar.

 

Martine Brunschwig Graf war von 2012-2023 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassimus. Sie ist alt Nationalrätin des Kantons Genf und Mitglied von UNSER RECHT.

 

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