Bundesrat Ignazio Cassis stellte kürzlich in einem Interview fest, es sei ihm bewusst, von wem er in die Landesregierung gewählt worden sei. Nämlich mit wesentlicher Beteiligung der wohöl fast  geschlossenen SVP-Fraktion.

Nun aber wendet er sich entschieden gegen die “Selbstbestimmungsinitiative” dieser Partei. Auszug aus einem Interview, das in der “Schweiz am Wochenende” vom 17.11.2018 (S. 12 f.) unter dem Titel “Damit wird die Büchse der Pandora geöffent” erschien (Link zum vollständigen Interview, verbreitet durch “Watson”):

“(…) Kommen wir zur anstehenden Abstimmung über die Selbstbestimmungs-Initiative (SBI). Die Befürworter der Initiative investieren deutlich mehr als die Gegner in ihre Inseratekampagne, wie am Donnerstag bekannt wurde. Läuten bei Ihnen die Alarmglocken? 

Das tun sie schon lange. Der Abstimmungskampf erinnert mich an jenen bei der Masseneinwanderungs-Initiative. Auch damals waren die Gegner klar in der Überzahl, es gab Grund zum Optimismus, und dann kam die böse Überraschung am Abstimmungstag. Auch jetzt steht wieder viel auf dem Spiel, und es ist schwierig abzuschätzen, wie es ausgeht.

Die Selbstbestimmungs-Initiative ist inhaltlich staubtrockene Materie. Trotzdem verläuft die öffentliche Debatte sehr emotional. Erstaunt Sie das?

Überhaupt nicht. Es geht hier um eine Frage, welche uns seit 700 Jahren beschäftigt, den Kern der Schweizer Identität, nämlich das Spannungsfeld zwischen In- und Ausland. Die Schweiz gehört heute, je nach Landesteil, zum deutschen, französischen oder italienischen Sprachraum. Für die eigene Identität ist darum die Abgrenzung zum Ausland umso wichtiger. Aus diesem Grund wird die Debatte so emotional geführt, auch wenn der Inhalt tatsächlich relativ trocken ist.

Die Gegner der SBI warnen vor einer Kündigung der Menschenrechtskonvention, grosser Rechtsunsicherheit und schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft. Was passiert wirklich bei einem Ja am 25. November? 

Die Folgen sind grundsätzlich extrem schwer vorhersehbar. Was mir vor allem Sorge macht, sind diese unmöglichen Übergangsbestimmungen.

Diese besagen, dass die Selbstbestimmungs-Initiative auch für alle bereits bestehenden Bestimmungen der Bundesverfassung und völkerrechtlichen Verpflichtungen gilt. Auch hier soll also die Verfassung über das Völkerrecht gestellt werden. 

Damit wird die Büchse der Pandora geöffnet. Das führt zu einer unglaublichen Unsicherheit, da wir nicht wissen, welche Verträge noch Gültigkeit haben.

Können Sie ein Beispiel nennen? 

Ein Paradebeispiel ist die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dieser hat das Volk nie explizit zugestimmt. Zwar hat die Stimmbevölkerung später mehrere Zusatzprotokolle zur EMRK angenommen. Juristisch kann man argumentieren, dass damit auch das Hauptdokument akzeptiert worden ist. Aber darüber kann man streiten, und darüber wird gestritten werden.

Wie viele Juristen müsste der Bund bei einem Ja zur SBI einstellen, um alle Verträge zu überprüfen? 

Wir haben keine Stellen eingeplant und würden sicher nicht systematisch alle Verträge unter die Lupe nehmen. Ich gehe davon aus, dass bei einer Annahme der Initiative verschiedene Gruppierungen ihre Ansprüche vorbringen werden und wir dann den umstrittenen Vertrag genauer überprüfen werden. Welche und wie viele Verträge das sein werden, wissen wir heute nicht. Darum kann ich auch nicht sagen, ob die Folgen bei einer Annahme der SBI dramatisch sind oder ob fast nichts passiert.

Die Initianten verweisen gerne auf die angenommene Abstimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative. Diese wurde mit Verweis auf die Personenfreizügigkeit nur halbherzig umgesetzt. Dies soll künftig mit der SBI verhindert werden. 

Es gab damals einen Zielkonflikt zwischen zwei Bestimmungen, und das Parlament musste einen Weg finden, die beiden miteinander zu vereinen. Gegen die gefundene Lösung wurde kein Referendum ergriffen.

Der Zielkonflikt war zwischen der in der Verfassung festgeschriebenen Beschränkung der Zuwanderung inklusive Kontingenten und der Personenfreizügigkeit. Gemäss SBI wäre die Hierarchie klar, die Bundesverfassung geht vor. 

Ja, auch wenn das Freizügigkeitsabkommen dem fakultativen Referendum unterstellt war.

(…)”

 

 

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