Am 1. Januar 2016 trat das Epidemiegesetz vom 28. September 2012 in Kraft. Im fünften Jahr seiner Geltung wird es zur Grundlage der Massnahmen gegen die Corona-Pandemie. Wie bewährt es sich? Welche Erwartungen, die in sein Konzept gesetzt wurden, erfüllt es?

Frédéric Bernard, Ordentlicher Professor am Departement für Öffentliches Recht der Universität Genf, geht diesen Fragen in einem Aufsatz nach, der in Jusletter, 30. März 2020, unter dem Titel «La Loi sur les épidémies à l’épreuve du nouveau coronavirus » erschien. Bernard ist auch Verfasser des Beitrags über Rechtsstaat und ausserordentliche Lage in «Verfassungsrecht der Schweiz = Droit constitutionnel suisse», Band II [Oliver Diggelmann/Maya Hertig Randall/Benjamin Schindler, Hsg.], Zürich 2020.

Bernard erinnert daran, dass der Gesetzgeber mit dem Epidemiegesetz die Eigenverantwortung stärken und die Kompetenzen von Bund und Kantonen entflechten wollte. Zur Eigenverantwortung stellt er fest, dass sich in einer ersten Phase die Bemühungen, diese zu aktivieren, mangels Problembewusstseins in Teilen der Bevölkerung, vor allem bei jungen Menschen und Personen über 65 Jahren, als ungenügend erwiesen. Die Massnahmen, die der Bundesrat am 13. März ankündigte, seien einem Eingeständnis des Scheiterns gleichgekommen: Die Sensibilisierung habe nicht (oder nicht hinreichend) gewirkt, um die Verbreitung der Krankheit zu bremsen. Deshalb sei es nötig geworden, klassische Polizeimassnahmen zu treffen: Verbindlichen Vorschriften zu erlassen und ihre Missachtung unter Strafe zu stellen. Indem der Bundesrat am 20. März auf eine generelle Ausgangssperre verzichtete, sei er aber ausdrücklich damit fortgefahren, sich auf das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung abzustützen. Dieses Vorgehen erfülle offenbar die Erwartungen.

Das Ziel der Entflechtung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen sieht Bernard nur teilweise erreicht. Der Respekt vor dem Geist des Föderalismus sei in der Initialverordnung vom 28. Februar augenfällig geworden, als der Bundesrat Veranstaltungen mit über 1’000 Teilnehmende verbot, aber den Kantonen die Möglichkeit beliess, strengere Vorschriften zu erlassen, wenn sie solche für notwendig hielten. Angesichts einer Bedrohung, die sich kaum um Kantonsgrenzen kümmert, sei es erlaubt, sich zu fragen, ob dieser Respekt vor dem Geist des Föderalismus wirklich Sinn habe, zumal da er wiederholt zur paradoxen Situation geführt habe, dass die Kantone den Bundesrat anflehten, strengere und zentralistischere Massnahmen zu treffen.

Allerdings bezweifelt der Autor, dass der Föderalismus die einzige Erklärung für eine gewissen Zurückhaltung des Bundesrates gegenüber entschiedenen Massnahmen sei, welche die Nachbarländer trafen. Sogar nach der Erklärung der ausserordentlichen Lage, und nachdem viele Stimmen eine allgemeine Ausgangssperre gefordert hätten, habe sich der Bundesrat darauf beschränkt, das Versammlungsverbot zu verschärfen. Damit habe er ausdrücklich dem Verhältnismässigkeitsprinzip, der möglichen Dauer der Massnahmen und dem Verantwortungsbewusstsein der schweizerischen Bevölkerung Rechnung getragen. Für Bernard ist es eher beruhigend, dass die Regierung von der aktuellen Krise nicht «profitieren» wolle, um ihre Macht zu vermehren.

Abschliessend stellt er fest, die Erklärung der ausserordentlichen Lage nach Art. 7 des Epidemiegesetzes sei in der ersten Phase von eher symbolischer Bedeutung gewesen. Für die ersten Massnahmen, die der Bundesrat traf, hätte auch die besondere Lage nach Art. 6 genügt. Die Ausrufung der ausserordentlichen Lage habe das von Bevölkerung und Kantonen geäusserten Bedürfnis befriedigt, einen einzigen Meister an Bord zu sehen. Allerdings habe die ausserordentliche Lage dem Bundesrat für die kommende Entwicklung grössere Handlungsfreiheit gegeben, bis hin zu einer allfälligen generellen Ausgangssperre.

 

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