Ungerechtfertigte Abkehr von elementaren Grundsätzen

Von Gian Ege

 

Sollen jugendliche Straftäter verwahrt werden? Während diese Frage noch vor einigen Jahren eine theoretische Spielerei mit einem Extremszenario war, wird sie der Gesetzgeber in absehbarer Zeit mit «Ja» beantworten. Auch wenn die vorgeschlagene Möglichkeit zur Verwahrung von jugendlichen Mördern zumindest in momentaner Form einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich hat, stellt sie eine einschneidende Abkehr von elementaren Grundsätzen des Jugendstrafrechts dar.

 

Ausgangslage

Das Jugendstrafrecht regelt den strafrechtlichen Umgang mit Jugendlichen, die im Alter von 10 bis und mit 17 Jahren eine Straftat begehen. Im Vordergrund steht die Sanktionierung jugendlicher Delinquenten. Welche Strafen sind ihnen gegenüber auszusprechen und wann kann mit sogenannten Schutzmassnahmen auf eine Rückfälligkeit reagiert werden?

Das Jugendstrafrecht ist erst seit 2007 in einem separaten Gesetz – dem Jugendstrafgesetz (JStG) – geregelt. Kernanliegen bei der Schaffung waren die verstärkte Betonung des erzieherischen Charakters der jugendstrafrechtlichen Sanktionen sowie die Verschärfung der Strafmöglichkeiten gegenüber mindestens 16-jährigen Jugendlichen, die schwere Straftaten begangen haben. Dazu wurde ein dualistisches Sanktionensystem geschaffen:

Strafen werden ausgesprochen, um auf den vergangenen Rechtsbruch möglichst verschuldensadäquat und gleichzeitig erzieherisch zu reagieren. Das Jugendstrafrecht hat dabei unter Berücksichtigung des Alters der jeweils straffälligen Person mehrheitlich ein tiefes Strafniveau. 10 bis 14-jährige Straftäter können nur mit einem Verweis oder einer persönlichen Leistung bis zu 10 Tagen sanktioniert werden. Mindestens 15-jährige Jugendliche können dann mit einer persönlichen Leistung bis zu 3 Monaten, einer Busse oder einem Freiheitsentzug bis zu einem Jahr bestraft werden. Jugendliche über 16 droht in schweren Fällen ein qualifizierter Freiheitsentzug von bis zu vier Jahren. Diese Maximalstrafe im JStG ist deutlich höher als die zuvor geltende Bestimmung im Strafgesetzbuch (StGB), wonach die Höchststrafe für Jugendliche in jedem Fall ein Jahr betrug.

Zeigt sich aufgrund einer Abklärung, dass der oder die straffällige Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischen Behandlung bedarf, so wird zusätzlich oder als einzige Sanktion eine Schutzmassnahme angeordnet, um die betreffende Person von weiteren Straftaten abzuhalten. Im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht folgt das Jugendstrafrecht – zumindest bisher – vollumfänglich dem Grundsatz der zeitlichen Begrenzung von Schutzmassnahmen. Ursprünglich endeten alle Massnahmen mit der Vollendung des 22. Altersjahres (eine längere Dauer gehe gemäss bundesrätlicher Botschaft zum JStG «für ein Jugendstrafrecht zu weit», BBl 1999 II 1979, 2241). Diese Altersgrenze wurde mit Änderung des Sanktionenrechts, in Kraft seit dem 1. Juli 2016, auf die Vollendung des 25. Altersjahres angehoben. Die Erhöhung erging vorwiegend, um gewährleisten zu können, «dass Jugendliche während einer Massnahme eine Berufslehre abschliessen können» (BBl 2012 4721, 4754). Bereits mit der auf den 1. Januar 2015 in Kraft getretenen Einführung von Tätigkeits-, Kontakt- und Rayonverboten wurde für diese spezifischen Schutzmassnahmen ermöglicht, sie nach Vollendung des 25. Altersjahres der betreffenden Jugendlichen als erwachsenstrafrechtliche Massnahme nach Art. 67 oder 67b StGB weiterzuführen.

Das Jugendstrafgesetz gilt seit über 15 Jahren – seit 2011 ergänzt durch die Jugendstrafprozessordnung (JStPO). Es wurde hinsichtlich der Erreichung seiner Ziele evaluiert und hat sich in der Praxis mehrheitlich als sinnvolles System für den Umgang mit jugendlichen Straftätern erwiesen. Ebenso wird das Schweizer Modell im naheliegenden Ausland immer wieder als Vorbild für Anpassungen im Jugendstrafrecht hervorgehoben. Trotz der positiven Evaluation des neuen Gesetzes sowie dessen Anklang in der Praxis wurden verschiedene politische Vorstösse zur Verschärfung des Jugendstrafrechts eingereicht. Diese wurden jedoch alle vorwiegend mit dem Hinweis auf das erst junge Gesetz und dessen gute Evaluation abgelehnt bzw. abgeschrieben (z.B. Motion 13.3725 «Verschärfung des Jugendstrafrechts»; Motion 10.3555 «Senkung der Altersgrenze zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht»; Motion 10.3131 «Verschärfung des Jugendstrafrechts»).

 

Revision zur Schliessung einer Sicherheitslücke?

Mit der Motion 16.3142 «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen», eingereicht am 17. März 2016 von Andrea Caroni, änderte sich die Ausgangslage. Aufgrund der zwingenden Obergrenze bei den jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen «klafft bei Tätern, welche die Sicherheit Dritter schwerwiegend bedrohen, eine gefährliche Lücke» – so der Motionstext. Die Räte nahmen die Motion an und beauftragten den Bundesrat damit, «die nötigen Gesetzesänderungen vorzuschlagen, damit gegenüber Jugendlichen, deren jugendstrafrechtliche Schutzmassnahmen wegen Erreichen der Altersgrenze beendet werden müssen (Art. 19 Abs. 2 des Jugendstrafgesetzes, JStG), die nötigen Massnahmen angeordnet bzw. weitergeführt werden können, wenn dies wegen schwerwiegender Nachteile für die Sicherheit Dritter notwendig ist.»

Am 13. November 2017 fand eine vom Bundesamt für Justiz organisierte Anhörung von Experten statt und im Frühjahr 2020 wurde ein Gesetzesentwurf sowie ein erläuternder Bericht veröffentlicht. Die darin vorgeschlagenen Anpassungen des JStG wurden im erläuternden Bericht (S. 64) wie folgt zusammengefasst: «Hat ein Jugendlicher eine sehr schwere Straftat begangen, so soll im jugendstrafrechtlichen Grundurteil eine Massnahme nach den Artikeln 59-61 und 64 Absatz 1 StGB vorbehalten werden können, wenn zu diesem Zeitpunkt von einer Rückfallgefahr auszugehen ist. Die vorbehaltene Massnahme soll vom Erwachsenengericht auf Antrag der Vollzugsbehörde angeordnet werden, wenn die betroffene Person volljährig geworden ist und am Ende ihrer jugendstrafrechtlichen Strafe oder Massnahme die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie wieder eine sehr schwere Tat begehen wird.» Als Anlassdelikte sollten dabei alle Delikte gelten, die nach Art. 25 Abs. 2 JStG den Anwendungsbereich eines qualifizierten Freiheitsentzugs eröffnen.

An diesem Vorschlag wurde im Rahmen der Vernehmlassung umfassende Kritik geübt. Neben juristischen Einzelheiten wurde insbesondere vorgebracht, dass sich die neue Ausrichtung nicht mit den Grundprinzipien des Jugendstrafrechts (Schutz und Erziehung) in Einklang bringen lässt. Aufgrund dieser Kritikpunkte «wurde eine neue, «reduzierte» Regelung verfasst» (BBl 2022 2991, 43) und am 9. November 2022 wurde ein Gesetzesentwurf präsentiert. Darin wurde der Anlasskatalog sowie die zulässigen Anschlussmassnahmen erheblich eingeschränkt. Als einzige Anschlussmöglichkeit ist die Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB vorgesehen, und zwar nur dann, wenn der oder die Jugendliche einen Mord nach Art. 112 StGB begangen hat und bei Beendigung der jugendstrafrechtlichen Strafe oder Schutzmassnahme erneut ein solches Delikt zu erwarten ist.

Vorgeschlagen ist also die Einführung der Verwahrung von jugendlichen Straftätern; allerdings unter sehr restriktiven Voraussetzungen. Die oder der Jugendliche muss einen Mord begangen haben und dafür zu einer geschlossenen Unterbringung oder einem qualifizierten Freiheitsentzug von einer bestimmten Dauer verurteilt werden. Ausserdem ist die Anordnung der anschliessenden Verwahrung nur möglich, wenn eine spezifische Rückfallgefahr hinsichtlich eines weiteren Mordes besteht.

Der Ständerat hat diesem Vorschlag in der Sommersession 2023 zugestimmt. Im Rahmen der Behandlung des Dossiers im Nationalrat in der Frühjahrssession 2024 wurde der grundsätzlichen Ausrichtung zugestimmt. Als einzige Neuerung schlägt der Nationalrat eine neue Maximalstrafe vor. Jugendliche, die nach Vollendung des 16. Altersjahres einen Mord begangen haben, sollen mit bis zu 6 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden können.

 

Probleme der vorgeschlagenen Änderungen

Das grundsätzliche Problem der vorgeschlagenen Revision des Jugendstrafrechts wird in der bundesrätlichen Botschaft explizit hervorgehoben: «Im Kern steht eine Abwägung des – statistisch geringen – Sicherheitsrisikos gegen die potenziellen Auswirkungen auf die Zukunftsperspektiven und Resozialisierungsmöglichkeiten der betroffenen Jugendlichen» (BBl 2022 2991, 51). Der Gesetzgeber stellt sich in dieser Abwägung auf die Seite der (vermeintlichen) Sicherheit. Für die erhoffte Verhinderung von sehr schweren Rechtsgutbeeinträchtigungen werden die Grundzüge des Jugendstrafrechts geopfert, wobei die restriktivste Regelung der Anwendungsvoraussetzungen «negative Auswirkungen auf ein Minimum beschränkt» (BBl 2022 2991, 52), so zumindest die Auffassung des Bundesrats.

Über die grundsätzliche Vereinbarkeit mit den besonderen Eigenheiten des Jugendstrafrechts hinaus bestehen zudem gravierende juristische Probleme im Einzelnen. Mag die Beschränkung des Anlassdelikts auf Mord gewährleisten, dass nur die schwersten Straftaten in den Anwendungsbereich der Verwahrung fallen, so ist sie spätestens als Voraussetzung für die spezifische Rückfallgefahr untauglich. Der Mord ist eine qualifizierte Art der Tötung. Das StGB gibt dabei in Art. 112 verschiedene Merkmale vor, welche die Mordqualifikation nahelegen. Allerdings ist die Annahme eines Mordes nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur unter Berücksichtigung der gesamten Tatumstände möglich. Inwiefern dies ex ante beurteilbar sein soll, ist nicht einleuchtend. Es wird Fälle geben, in denen Fachleute von einer hohen Rückfallgefahr für ein brutales Tötungsdelikt ausgehen. Dann jedoch von einer hohen Rückfälligkeit für einen Mord zu sprechen, widerspricht der Mordkonzeption. Insofern wurde eine nicht erfüllbare Anordnungsvoraussetzung getroffen.

Ist die vorgeschlagene Gesetzesänderung demnach bedeutungslos und erübrigt sich insofern die Grundsatzkritik? Dem ist aus verschiedenen Gründen nicht so. Zunächst ist denkbar, dass die Praxis die zuvor beschriebenen Vorbehalte verwirft und dennoch eine spezifische Rückfallgefahr hinsichtlich eines Mordes annimmt. Dies könnte unerwünschte Konsequenzen für die Mordqualifikation im Allgemeinen haben, indem in Zukunft für die Mordqualifikation auf die Gesamtwürdigung aller Umstände verzichtet wird. Viel wahrscheinlicher ist jedoch das zweite Szenario: Sind die Grundsätze des Jugendstrafrechts erst einmal durchbrochen und ist Verwahrung von Jugendlichen möglich, so wird dies in Zukunft dazu führen, dass die gesetzlichen Möglichkeiten nach den ersten Fällen, in denen sich zeigt, dass auch die getroffene Lösung nicht alle Sicherheitsrisiken schliesst, erweitert werden. So wird man über kurz oder lang beim ursprünglichen bundesrätlichen Vorschlag landen, der aufgrund der berechtigten Grundsatzkritik verworfen wurde.

 

Sicherheitsgetriebene Abkehr von bewährten Grundsätzen

Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass die vorgeschlagene Änderung des Jugendstrafrechts an erheblichen Mängeln leidet. Gleichzeitig ist sie ein Sinnbild für den aktuellen rechtspolitischen Umgang mit dem Strafrecht: Es besteht die falsche und übersteigerte Erwartung, das Straf- und insbesondere das Massnahmenrecht könne unsere Gesellschaft sicher machen. Das ist eine unerfüllbare Erwartung. Das Strafrecht kann nicht alle schweren Straftaten verhindern.

Zwar kann es unter Umständen eine indirekte staatliche Grundrechtsverletzung sein, wenn die Bevölkerung nicht vor vorhersehbaren und vermeidbaren Straftaten geschützt wird. Allerdings ist es ebenso eine direkte staatliche Grundrechtsverletzung, wenn potenziell ungefährliche Personen zum Schutz anderer inhaftiert werden. Diese Problematik besteht bei der Verwahrung jugendlicher Straftäter klarerweise. Die betroffenen Personen sind immer sehr jung, was einerseits genaue langfristige Prognosen erschwert, und andererseits werden junge Menschen dadurch früh als unverbesserlich gelabelt. Dies kann wiederum allfällige Therapiebemühungen beeinflussen. Dass gerade für jugendliche Straftäter die absolute Begrenzung von Schutzmassnahmen – wenn auch für den Moment nur für einen sehr eingeschränkten Bereich – aufgegeben werden soll, ist bedenklich und steht in diametralem Widerspruch zum ansonsten auf Wiedereingliederung ausgerichteten Jugendstrafrecht.

Die Revision des Jugendstrafrechts ist angetrieben durch einen antizipierten Schock: Was, wenn ein Jugendlicher, der mit 25 aus einer Massnahme entlassen werden muss, erneut ein schweres Delikt begeht? Dies zeigt sich auch in der verwendeten Rhetorik, geht es doch um die Schliessung einer «gefährlichen Lücke». Verschiedene Vorstösse (so etwa die am 7. März 2024 eingereichte Motion 24.3115 «Verschärfung des Jugendstrafrechts») regieren auf publik gewordene Extremfälle – eine Reaktion auf schockierende Einzeltaten.

Schockgetriebene Gesetzgebung führt dabei zu kaum lösungsorientierten Regelungen. So werden wie beschrieben einerseits Regelungen getroffen, die sich nicht umsetzen lassen. Andererseits werden Normen vorgeschlagen, welche die grundlegende Problematik nicht beheben. Auch wenn die Verwahrung von jugendlichen Mördern eingeführt wurde, wird es weiterhin zu schweren Straftaten kommen, die von Personen begangen wurden, die aus jugendstrafrechtlichen Strafen oder Schutzmassnahmen entlassen wurden. Die gleiche Problematik gilt für die vom Nationalrat vorgeschlagene Erhöhung der maximalen Dauer der Freiheitsentzüge von 4 auf 6 Jahre für über 16-jährige straffällige Jugendliche, die einen Mord begangen haben. Gerade für extreme Einzeldelikte wird auch das keine strafrechtliche Reaktion ermöglichen, die im Auge eines Bevölkerungsanteils der Tat gerecht wird. Das ist allerdings auch nicht das Ziel des Jugendstrafrechts.

Das Jugendstrafrecht zeichnet sich aufgrund der Besonderheiten von jugendlichen Straftätern durch sehr tiefe Strafen aus. Dies ist dem strafrechtlichen Schuldprinzip angemessen, steht dahinter doch eine gesetzlich vermutete verminderte Schuldfähigkeit. Die tiefen Strafen sind bewusst gewählt und verdeutlichen – zumindest bisher –, dass das Jugendstrafrecht gewisse Verletzungen des allgemeinen Gerechtigkeitsempfindens bei Extremfällen durchaus bewusst in Kauf nimmt. Solche extreme Einzelfälle werden weiterhin vorkommen, eine erhöhte Strafdrohung wird dies nicht verhindern, und ob dadurch eine «angemessenere» Behandlung von Jugendlichen, die einen Mord begangen haben, möglich ist, erscheint zumindest höchst zweifelhaft..

Die vorgeschlagenen Änderungen des Jugendstrafrechts lösen die als Begründung der Revision vorgebrachten Probleme nicht oder höchst partiell und opfern dafür elementare Grundsätze des Jugendstrafrechts. Ein solches primär auf politische Gründe zurückzuführendes Vorgehen des Gesetzgebers ist unangemessen. Eine Verschärfung, die primär auf extreme Einzelfälle ausgelegt ist, missachtet, dass die neu geschaffenen Regeln die gesamte jugendstrafrechtliche Ordnung und ihre Grundsätze betreffen und damit für die grosse Mehrheit der Fälle von Jugenddelinquenz negative Auswirkungen haben kann. Auch oder gerade im Jugendstrafrecht gilt: «Hard cases make bad law».

 

Gian Ege ist Assistenzprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. Er beschäftigt sich schwerpunktmässig mit Fragen des materiellen Kernstrafrechts und des Strafprozessrechts und unterrichtet und publiziert in den Bereichen Jugendstrafrecht, Migrationsstrafrecht und transnationale organisierte Kriminalität. Gian Ege ist Mitglied von UNSER RECHT.

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