Neuer Entscheid zur Unschuldsvermutung in einem Schweizer Fall.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem Fall, der die Schweiz betrifft, die Behörden wegen Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) verurteilt. Es geht im Fall Peltereau-Villeneuve um einen katholischen Priester, dem im Kanton Genf sexuelle Handlungen mit Abhängigen vorgeworfen wurden. 2008 hatte ein Genfer Staatsanwalt gegen den Priester ein Verfahren eröffnet, in dessen Folge zwei mutmassliche Opfer von der Polizei vernommen wurden. Die Staatsanwaltschaft stellte die Untersuchung im September 2008 ein. In der Einstellungsverfügung vermerkte der zuständige Staatsanwalt, dass der Priester sexuelle Handlungen mit mindestens zwei Abhängigen getätigt hätte; die Straftat sei jedoch verjährt, da die Vorfälle auf die Jahre 1991 und 1992 zurückgingen.

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Die Medienmitteilung zum Urteil finden Sie hier.

Kommentar von humanrights.ch:

 „Das Urteil des EGMR mag auf den ersten Blick, schwer zu verdauen sein. Es scheint einmal mehr, dass der Gerichtshof eine Person schützt, die dies nicht verdient hat. Dennoch ist das Urteil nachvollziehbar und richtig. Der Priester konnte sich nie vor einem Gericht gegen die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe verteidigen. Er wurde von der Öffentlichkeit und von Behörden aufgrund der Meinung des Staatsanwalts für schuldig befunden. Er musste dadurch alle Konsequenzen tragen, die auch ein regulärer Prozess mit anschliessender Verurteilung zur Folge gehabt hätte. 

 Es kann nicht sein, dass das Gesetz für Straftaten eine Verjährungsfrist vorsieht, dass diese Frist jedoch in der Realität dazu führt, dass ein mutmasslicher Straftäter sich schliesslich nie vor Gericht verteidigen kann und quasi in Umgehung aller rechtsstaatlicher Garantien direkt die sozialen Folgen einer Verurteilung tragen muss. Auch mutmassliche Straftäter haben das Recht auf einen fairen Prozess und darauf, dass sie sich zu den Anschuldigungen, die gegen sie erhoben werden, äussern können. 

 Das Urteil des EGMR zeigt also, dass rechtsstaatliche Prinzipien hoch gehalten werden und dass Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht wie im Mittelalter der sozialen Ächtung ausgesetzt werden dürfen. Wenn im Einzelfall die innerstaatlichen Sicherungen zum Schutz der Unschuldsvermutung nicht funktionieren, so ist es die Pflicht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, die nötige Korrektur vorzunehmen.“

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