Daniel Thürer im „Tages-Anzeiger“ zur schweizerischen Debatte über die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

“(…) In letzter Zeit weckten einzelne Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heftige Kritik. Strassburg sei übereifrig und doktrinär, so der Tenor. Die Staaten sollten vermehrt in eigener Verantwortung ihren verfassungsmässigen Rechten und menschenrechtlichen Verpflichtungen nachkommen.

Eine Diskussion über die spezifische Rolle des Gerichtshofs und eine angemessene Teilung der Verantwortung mit den nationalen Gerichten ist berechtigt. Extremisten fordern nun aber einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das ist unverantwortlich und gefährlich. Verkannt wird, dass hier Zivilisationswerte erster Ordnung verbrieft sind. Das Vertragswerk basiert auf der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, die eine Reaktion der Völker auf den katastrophalsten Krieg in der Geschichte der Menschheit war.

Aus der Nabelschau lokaler Betroffenheit die Europäische Menschenrechtskonvention als ein bürokratisches Machwerk abzutun, ist engstirnig und unmoralisch. Die korrekte Handhabung und angemessene Fortentwicklung der Konvention liegt nicht von ungefähr in der gemeinsamen Verantwortung der europäischen Staaten. Schlägt ein Staat – und gerade die Schweiz – die erste Bresche, droht der Damm bald einmal zusammenzubrechen.

Die Wirkungssphären zwischen Strassburg und den Mitgliedsstaaten müssen sorgfältig geprüft werden. Die kleine Münze soll nicht die Angelegenheit des Europäischen Gerichtshofs sein. Auch soll er Rücksicht nehmen auf unterschiedliche Traditionen und Menschenrechtsverständnisse. Gefordert ist der aufgeschlossene Dialog zwischen den Gerichten, in der Wissenschaft und in der Politik. Wer aus Ärger über Einzelfälle der Konvention als solcher den Rücken kehren will, handelt so unüberlegt wie ein Kind, das die Schule verlässt, nur weil es – gerechterweise oder nicht – in einer Prüfung eine schlechte Note erhalten hat. (…)”

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