Würde die “Selbstbestimmungsinitiative” angenommen so würden Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur noch nach Gutdünken umgesetzt. Das werde schon keine Nachteile für die Schweiz haben, und die Europäische Menschenrechtskonvention müsse schon nicht gekündigt werden, beschwichtigen die Befürworter.

So sagt Nationalrat Hans-Ueli Vogt in einem Interview der “Schweiz am Wochenende” (20.10.18): “Einzelne Gerichtsentscheide können zu einem Konflikt mit dem internationalen Recht führen. Das Gericht könnte in einem Einzelfall zum Beispiel die Ausschaffung eines kriminellen Ausländers beschliessen, obwohl dies der EMRK widerspricht.. Solche einzelnen, abweichenden Urteile rechtfertigen die Kündigung der EMRK nicht.”

Wenn Vogt von “einzelnen Gerichtsentscheiden” spricht, ist darauf hinzuweisen, dass Zahl und Bedeutung der Urteile, mit denen die Initianten ihre Absicht begründen, die Verbindlichkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aufzuheben, durchaus erheblich sind.

Entscheidend zur Beurteilung des Vorschlags, die EMRK nur noch nach Gutdünken zu befolgen, sind aber:

Erstens die Verpflichtung der Vertragsstaaten der EMRK, die Urteile des EGMR zu befolgen.

Zweitens Art. 122 des Bundesgerichtsgesetzes, das notabene referendumspflichtig war und somit direktdemokratisch legitimiert ist: Der Revisionsgrund “Verletzung der EMRK” (mehr dazu hier).

Artikel 46 der EMRK trägt den Titel “Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile”. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien,”in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen” (Abs. 1). Mit dem Revisionsgrund “Verletzung der EMRK” sorgte der schweizerische Gesetzgeber dafür, dass die Schweiz dieser Vertragspflicht nachkommt.

Nach Art. 46 Abs. 2 EMRK überwacht das Ministerkomitee des Europarats den Vollzug der Urteile des EGMR. Weitere Bestimmungen regeln das Vorgehen, wenn ein Vertragsstaat sich weigert, ein Urteil zu befolgen (siehe Link im obigen Abschnitt). Wenn feststeht, dass ein Staat seine Pflicht zur Befolgung der EGMR-Urteile verletzt hat, prüft das Ministerkomitee die zu treffenden Massnahmen.

Man muss sich bewusst sein, dass die Schweiz durch die Annahme der “Selbstbestimmungsinitiative” in eine andere Situation gerät als ein Staat, der in einem oder mehreren Einzelfällen ein Urteil des EGMR nicht befolgt. Die Schweiz würde einen Grundsatzentscheid fällen, solche Urteile dem Vorrang des Landesrechts zu unterstellen, folglich prinzipiell einen Teil der künftigen EGMR-Urteile nicht mehr zu befolgen. Damit würde sie den Europarat als Trägerschaft von EMRK und EGMR in einer Weise herausfordern, wie es bisher nur Russland getan hat.

Die SVP pflegt zu sagen: Es passiert schon nichts. Europa ist so schwach, die Schweiz ist so stark – die Schweiz kann sich das leisten. So hat sie bereits im Fall der Masseneinwanderungsinitiative argumentiert. Der Erfolg, den sie damit hatte, macht verständlich, dass sie dies jetzt bei der SBI wiederholt.

Tatsächlich gehen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Europarat sehr sorgfältig damit um, dass einzelne Staaten ihre Rechtsstaatlichkeit abbauen und sich anschicken, die EMRK nicht mehr oder nur noch nach Gutdünken zu befolgen. Somit hat die Schweiz primär einen eigenverantwortlichen Entscheid zu fällen: Wollen wir den Europarat in seinem Einsatz für die Grundrechte in Europa, für die Geltung der EMRK und der Urteile des EGMR stärken, oder wollen wir ein Beispiel der Vertragsverletzung geben?

 

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