Jetzt entscheidet der Ständerat
Von Ulrich Gut
Am Mittwoch, 18. Dezember 2024, befasst sich der Ständerat mit migrationspolitischen Vorlagen. Insbesondere wird er entscheiden, ob vorläufig Aufgenommenen der Familiennachzug verunmöglicht werden soll.
Es geht um gleichlautende Motionen der SVP-Fraktion (24.3057) und der St. Galler SVP-Ständerätin Esther Friedli (24.3511). Der Entscheid hat einen grundrechtlichen, einen wirkungsbezogenen und einen humanitären Aspekt.
Zur grundrechtlichen Beurteilung: Artikel 13 Absatz 1 der Bundesverfassung gewährleistet das Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Er sieht keine Beschränkung dieses Rechts auf Menschen mit einem bestimmten rechtlichen Anwesenheitsstatus vor. Zur Wahrung dieses Rechts verpflichtete sich die Schweiz auch durch ihren Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention, deren Artikel 8 es ebenfalls garantiert. Wenn die beiden Motionen überwiesen werden und zu einer Gesetzesbestimmung führen, die den Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene untersagt, können Betroffene beim Bundesgericht und, wenn nötig, anschliessend beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde führen. Wer nun Lust auf ein «Jetzt Erst Recht» hat, und wegen des Urteils in Sachen KlimaSeniorinnen sein Mütchen an «Strassburg» kühlen will, sollte sich bewusst machen, dass der Familiennachzug dem ursprünglichen Kerngehalt von Artikel 8 der EMRK entspricht. Als die Schweiz der EMRK beitrat, war dies offensichtlich. Es bedarf keiner besonderen Auslegung oder gar richterlicher Rechtsfortbildung, um kraft Artikel 8 EMRK das Recht auf Familiennachzug zu schützen.
Zur wirkungsbezogenen Beurteilung: Nach Absatz 2 desselben Artikels darf eine Behörde «in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer». Damit kommen wir zum wirkungsbezogenen Aspekt der Entscheidung. Wäre die Aufhebung des Rechts auf Familiennachzug eine notwendige und wirksame Massnahme zur Wahrung der in Absatz 2 aufgezählten Interessen? Angesichts der Ausführungen des Bundesrates in der Begründung seines Antrags auf Ablehnung der Motionen ist dies zu verneinen:
«Es gelten weiterhin restriktive Voraussetzungen wie die zeitlich minimale Anwesenheitsdauer in der Schweiz und die Unabhängigkeit von der Sozialhilfe. Eine solche liegt in der Praxis nur in den allerwenigsten Fällen bereits nach zwei Jahren vor, d.h. ein Familiennachzug nach zwei Jahren dürfte demnach nur in den seltensten Fällen möglich sein. Sowohl die Verwandtschaftsverhältnisse als auch die Identität der Nachzuziehenden werden im Einzelfall konsequent überprüft. Die Zahl der bewilligten Gesuche um Familiennachzug von vorläufig Aufgenommen ist relativ gering. In den letzten vier Jahren (2020 bis 2023) wurden im Durchschnitt jährlich 108 Bewilligungen erteilt.»
Schliesslich zum humanitären Aspekt: Es ist unverständlich, die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen, dass Menschen, die in der Schweiz vorläufig aufgenommen wurden, während Jahren von ihren Familien getrennt bleiben. Weder können sie ihren Pflichten als Ehegatten, Väter und Mütter nachkommen, noch wird ihre Existenz durch ein Familienleben bereichert und stabilisiert. Wir wissen, dass viele vorläufig Aufgenommene kurz- und mittelfristig keine Rückkehrperspektive haben, wenn überhaupt je wieder. Ihnen gegenüber kann die Verweigerung des Familiennachzugs nur ein vermeintliches Mittel sein, sie trotzdem um jeden menschlichen Preis loszuwerden – egal wohin.
Weitere asyl- und migrationspolitische Vorlagen, die der Ständerat am 18. Dezember behandeln wird
Revision des Asylgesetzes (Sicherheit und Betrieb in den Zentren des Bundes, 24.038):
Aus der Medienmitteilung der Staatspolitischen Kommission des Ständerates (SPK-S): «(…) Die SPK-S hat mehrere Differenzen zum Beschluss des Nationalrates geschaffen. So hat sie eine Grundsatzbestimmung zum besonderen Schutzbedürfnis von Frauen und Kindern beschlossen (9 zu 4 Stimmen). Ausserdem beantragt sie, die Höchstdauer für die Disziplinarmassnahme des Ausschlusses aus den allgemein zugänglichen Räumen von den im Bundesratsentwurf vorgesehenen 72 Stunden auf zehn Tage zu erhöhen (6 zu 5 Stimmen bei 1 Enthaltung). Im Weiteren hat sie die Möglichkeit gestrichen, beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) gegen die Zuweisung in ein besonderes Zentrum für renitente Asylsuchende Beschwerde zu erheben (7 zu 5 Stimmen). In der Gesamtabstimmung hat die Kommission den Entwurf einstimmig angenommen.»
Vorstösse, deren Annahme der Bundesrat beantragt:
Postulat von Marianne Binder-Keller (Die Mitte, Aargau): «Umgang mit kriminellen Asylsuchenden und rechtsstaatsfeindlichen Gruppierungen. Bessere Koordination der Behörden.» 24.3938.
Postulat von Heidi Z’graggen (Die Mitte, Uri): «Analyse der Asylverfahren in ausgewählten europäischen Ländern.» 24.3939.
Vorstösse, die der Bundesrat ablehnt, die Staatspolitische Kommission des Ständerates jedoch unterstützt:
Motion von Nicolò Paganini (Die Mitte, SG): «Für die Akzeptanz des Schutzstatus S braucht es Anpassungen. 24.3035.» Die Motion verlangt, «Anpassungen beim Schutzstatus S vorzunehmen. Insbesondere soll der Schutzstatus S aberkannt bzw. nicht wieder erlangt werden
– wenn eine Person für eine bestimmte Aufenthaltsdauer (z.B. 14 Tage) ausreist;
– wenn eine Person Rückkehrhilfe oder andere rückkehrorientierte Hilfen bezogen hat;
– wenn der Schutzstatus S missbräuchlich erlangt wurde.
Des weiteren soll sichergestellt werden, dass der Schutzstatus innerhalb des Dublin-Raums nur ein Mal erteilt wird.»
Der Bundesrat ist «der Auffassung, dass die heute bestehenden gesetzlichen Regelungen den Anliegen der vorliegenden Motion bereits angemessen Rechnung tragen.»
Erwägungen der Kommission: «Die Kommission ist zum einen der Ansicht, dass der Missbrauch des Schutzstatus S ernst genommen werden muss und systematisch präventive – und gegebenenfalls repressive – Massnahmen zu ergreifen sind. Sie hält insbesondere fest, dass es für die Kantone und Gemeinden (durch die entstehende Rotation z. B. bei Wohnungen) problematisch sein kann, wenn die Geflüchteten aus der Ukraine häufig aus- und wieder einreisen. Ein häufiges Hin und Her erschwert die Integration dieser Personen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und im Schulsystem, und macht die Eingliederung zudem kostspieliger. Auch die Unterbringung dieser Personen ist mit zusätzlichen Kosten verbunden. Zum anderen weist die Kommission darauf hin, dass der Ständerat in der Sommersession 2024 bereits die gleichlautende Motion 24.3022 Würth («Für die Akzeptanz des Schutzstatus S braucht es Anpassungen») angenommen hat.
Motion der SVP-Fraktion und gleichlautende Motion von Werner Salzmann (SVP, Bern): «Datenaustausch bei illegalen Migranten systematisieren. 24.3059, 24.3498.
Aus der ablehnenden Stellungnahme des Bundesrates: «Mit der geltenden Regelung wird der Datenschutz gewährleistet, und es kann vermieden werden, dass Sans-Papiers auf eine Anmeldung bei den Sozialversicherungen verzichten. Wenn Sans-Papiers nicht versichert sind, würden insbesondere ihre Gesundheitskosten auf die Kantone und Gemeinden überwälzt, die für die Nothilfe zuständig sind.
Für Straf- und Zivilgerichte sowie Staatsanwaltschaften ist eine Meldepflicht gegenüber den Migrationsbehörden vorgesehen (siehe Artikel 97 Absatz 3 des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG; SR 142.20) und die Art. 82ff. der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; RS 142.201)) .
Da sich Sans-Papiers in der Regel nicht bei den Behörden anmelden, wenn sie eine Entdeckung befürchten müssen, erachtet der Bundesrat einen automatischen Datenaustausch zwischen den mit dem Vollzug der Sozialversicherungsgesetze und den mit dem Vollzug des AIG betrauten Organen in der Praxis als nicht wirkungsvoll.»
Erwägungen der Kommission: «Die Kommissionsmehrheit ist der Auffassung, dass illegale Migration und die damit einhergehende Schwarzarbeit ein grosses Problem in der Schweiz sind. Gegen diese Phänomene müsse vorgegangen werden. Die Bevölkerung akzeptiere nicht mehr, dass nichts getan und illegale Migration als gegeben hingenommen werde, und erwarte konkrete Antworten. Der mit den Motionen verlangte Datenaustausch stelle eine einfache und konkrete Massnahme gegen den illegalen Aufenthalt in der Schweiz dar. Es sei nicht akzeptabel, dass der Datenschutz die Identifizierung und Abschiebung von «Sans-papiers» erschwere. Die Kommissionsminderheit wiederum ist der Auffassung, dass der Hauptgrund für illegale Migration das Angebot an Schwarzarbeit ist. Zur besseren Bekämpfung illegaler Migration seien grösserer Druck auf die Arbeitgeber und intensivere Kontrollen notwendig.»
Vorstoss, den sowohl der Bundesrat als auch die SPK-S ablehnen:
Motion von Nationalrätin Corina Gredig (Grünliberale, ZH): «Schutzstatus S. Erwerbsanreize und Perspektiven schaffen. 24.3456: «Der Bundesrat wird beauftragt, ein Anreizsystem für die Erwerbstätigkeit von Personen mit Schutzstatus S zu schaffen mit dem Ziel, die finanzielle Eigenständigkeit der Schutzsuchenden zu erhöhen und die Fürsorgeabhängigkeit zu verringern.» Der Bundesrat erachtet daher das Anliegen der Motionärin durch die bereits ergriffenen Massnahmen und laufenden Prüfaufträge als erfüllt und beantragt Ablehnung der Motion. Die SPK-S schloss sich mit 6 zu 5 Stimmen diesem Antrag an.
Vorstösse, die der Bundesrat ablehnt:
Motion von Daniel Fässler (Mitte, AI). «Wegweisungsverfügungen sind rascher und konsequenter zu vollziehen.» 24.3937.
Aus der Stellungnahme des Bundesrates: «(…) Die Motion verlangt Massnahmen, damit die Kantone Rückführungen innerhalb der Ausreisefristen durchführen, die das Staatsekretariat für Migration (SEM) in den Wegweisungsverfügungen setzt. Diese Fristen richten sich allerdings nicht an die Kantone, sondern an die weggewiesenen Personen selber. Mit der Ansetzung der Ausreisefrist wird die ausländische Person vom SEM auf ihre Ausreisepflicht und, wo gesetzlich möglich, auf die Möglichkeit der Gewährung von Rückkehrhilfe bei einer freiwilligen Ausreise hingewiesen. Erst wenn die betroffene Person die ihr eigeräumte Ausreisefrist ungenutzt verstreichen lässt, wird eine Wegweisung zwangsweise vollzogen. Somit würde die vorgeschlagene Massnahme im Widerspruch zur bewährten und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz entsprechenden Praxis stehen, wonach der freiwilligen Ausreise grundsätzlich Vorrang einzuräumen ist. Dies hätte zudem insgesamt eine Verzögerung des Rückkehrprozesses zur Folge, weil zwangsweise Rückführungen in aller Regel länger dauern als freiwillige Ausreisen. Ausserdem hätte dieser Paradigmenwechsel für die kantonalen Polizeibehörden einen deutlich höheren Personalaufwand zur Folge. (…) Die Schweiz zählt zu den vollzugsstärksten Staaten Europas. Der Bundesrat wird seine Bemühungen, den Wegweisungsvollzug weiter zu optimieren, fortsetzen. (…)»
Postulat von Pascal Broulis (FDP-Liberale, VD): «Herausforderungen im Zusammenhang mit einer 10-Millionen-Schweiz. 24.4038. Der Bundesrat beantragt Ablehnung.»
Aus der Stellungnahme des Bundesrates: «(…) In der Botschaft des Bundesrates zur Eidgenössischen Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz! (Nachhaltigkeitsinitiative)», werden die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Begrenzung der Zuwanderung dargelegt. Die Zuwanderung – vor allem aus dem EU/EFTA-Raum – der letzten 20 Jahre hat die drohenden Finanzierungsprobleme bei der ersten Säule entschärft, indem das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnerinnen und Rentnern verbessert wurde (Verjüngung der Bevölkerung). Diese Aussage gilt gemäss Projektionen auch für die nächsten 50 Jahre. Die Folgen der Einwanderung auf die Sozialversicherungen der ersten Säule wurden in dem vom Bundesamt für Sozialversicherungen Ende 2023 veröffentlichten Forschungsbericht «Migration und Sozialversicherungen – Eine Betrachtung der ersten Säule und der Familienzulagen» bereits eingehend untersucht.
Das Parlament hat den Bundesrat mit dem Postulat 23.3042 (Bellaiche) «Positiv geprägte Vision einer 10-Millionen-Schweiz» beauftragt, die Auswirkungen des Bevölkerungswachstums auf verschiedene Bereiche wie Gesundheitswesen, Altersvorsorge, Beschäftigung und öffentliche Finanzen zu analysieren. Der Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 23.4171 (Gössi) «Aktualisierter Bericht zur Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in die Schweiz», der voraussichtlich im Dezember 2025 veröffentlicht wird, wird zudem eine Analyse der Auswirkungen der Zuwanderung auf verschiedene Politikbereiche und der Instrumente zur Migrationssteuerung beinhalten.
Interpellation von Marco Chiesa (SVP, TI): «Bleiben die zur Landesverweisung Verurteilten unbehelligt in der Schweiz?» 24.3967.
Aus der Stellungnahme des Bundesrates: «(…) Die Verantwortung für die Überwachung von Personen, die strafrechtlich ausgewiesen wurden, liegt bei den Kantonen. Wenn die auszuweisenden Personen keine gültigen Reisedokumente besitzen, kann der Kanton beim Staatssekretariat für Migration (SEM) die Rückkehrunterstützung beantragen. Das SEM unterstützt die Kantone bei der Identifizierung, der Beschaffung von Reisedokumenten und der Organisation der Ausreise.
Die Zusammenarbeit mit dem Irak hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert und kann mittlerweile als gut bezeichnet werden. Am 24. Mai 2024 unterzeichneten die Schweiz und der Irak eine Migrationsvereinbarung. Die Folgen dieser verbesserten Zusammenarbeit lassen sich statistisch nachweisen: In den Jahren 2023 und 2024 konnte das SEM insgesamt 147 Ausreisen in den Irak organisieren, davon 45 zwangsweise. Der Vollzug der Aus- und Wegweisung sowie der Landesverweisung ist derzeit auf allen Vollzugsstufen möglich, einschliesslich Sonderflüge. Die meisten irakischen Staatsangehörigen, welche straffällig wurden, konnten in den letzten beiden Jahren bereits zurückgeführt werden. Diese Fortschritte sind ein Resultat der engen Zusammenarbeit aller involvierten Behörden auf kantonaler und Bundesebene.
Die Kooperation im Rückkehrbereich zwischen Bund und Kantonen funktioniert grundsätzlich gut. Die involvierten Behörden haben dasselbe Ziel: ein rascher und effizienter Vollzug. In der Frühjahrssession 2024 stimmte der Ständerat auf Empfehlung des Bundesrates der Motion 23.3082 Salzmann «Rückführungsoffensive und konsequente Ausweisung von Straftätern und Gefährdern» zu. Diese beauftragt nun den Bundesrat, «dem Parlament ein Konzept vorzulegen, wie die Zahl der Rückführungen und Ausweisungen in den kommenden Jahren deutlich erhöht werden kann». Die Umsetzung dieser Motion wird zeigen, welche Massnahmen ergriffen werden können, um eine weitere Optimierung des Rückkehrsystems auf allen Ebenen zu erreichen. Die Erstellung relevanter Statistiken kann Teil dieser Massnahmen sein.»
Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT.