Nicht erst seit gestern lesen und hören wir immer wieder von gescheiten, gereiften Menschen: Hört doch endlich auf, zu dramatisieren!  Vor jeder Volksabstimmungen behaupten Befürworter und Gegner, wenn man ihnen nicht folge, gehe die Demokratie, die Schweiz oder was sonst noch unter. Wir mögen es nicht mehr hören, nicht mehr lesen. Es beleidigt unsere Intelligenz, unsere Lebenserfahrung.

Auch wir, die wir die “Selbstbestimmungsinitiative” bekämpfen, werden so gemahnt. Wenn diese Initiative angenommen würde, hätte das Parlament mit seiner starken Stellung, die ihm die Verfassung gebe, eine grosse Freiheit bei deren Umsetzung. Schliesslich hat die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit: Volk und Stände haben damit bewusst in Kauf genommen, dass das Parlament die Verfassung umgeht oder unerfüllt lässt.

Dazu kommt, dass diese Initiative wahrscheinlich zu viel verspricht. Wenn das Kernpublikum der Initianten erwartet, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht mehr gelte, weil sie gemäss damaligem Verfassungsrecht nicht dem fakultativen Referendum unterstand, verkenne es, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg inzwischen auf einem “Zusatzprotokoll” (einem Ergänzungsvertrag) beruht, das durchaus dem Referendum unterstand. Die heutige Strassburger Rechtsprechung wäre also gerade kraft Wortlauts der SBI verbindlich.

Sollte die Initiative angenommen werden, so beschwichtigt man, würde sich hoffentlich, ja sogar wahrscheinlich, einmal mehr eine Schweizer Tugend bewähren: Die Bereitschaft zur Schadensminderung. Die Freiheit der Gesetzgebung nutzend, würde man der Initiative Zähne ziehen.

Diese Darstellung kommt – ungewollt – den Initianten entgegen, die die Initiative ihrerseits so harmlos wie möglich darstellen, um möglichst viele Stimmen gemässigter Stimmberechtigter zu gewinnen, die die radikalen Absichten, mit denen die Initianten die Unterschriften sammelten, höchstens partiell teilen.

Die meisten Fürsprecher der Entdramatisierung und der Schadensminderung empfehlen dann doch, die SBI abzulehnen: Weil sie die Entwicklung in die falsche Richtung zöge. Weil sie ein unerwünschtes Signal aussenden würde. Völkerrecht und europäischer Menschenrechtsschutz seien ohnehin schon unter Druck. Da solle nicht auch noch die Schweiz ihnen einen plebiszitären Schlag versetzen.

Aber können wir uns wirklich darauf verlassen, dass diese Initiative, wenn sie angenommen würde, keinen schweren Schaden anrichte nwürde? Nein. Ein Beispiel: Die Initianten wären ihrer Basis gegenüber in der Pflicht, einen parlamentarischen Vorstoss zur Streichung von Artikel 122 des Bundesgerichtsgesetzes einreichen, der lautet:

“Die Revision wegen Verletzung der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 19501 (EMRK) kann verlangt werden, wenn:

a.
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind;
b.
eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen; und
c.
die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen.”
Woher nehmen wir die Gewissheit, dass sich in den Räten hierfür unter dem Eindruck der Annahme der SBI keine Mehrheit fände?
Ein zweiter Punkt: Wie entwickelt sich das Initiativrecht, und wie entwickelt sich die politische Stimmung im Land, wenn nach dem Fall “Masseneinwanderungsinitiative” ein zweiter, dritter, vierter und x-ter eintritt, bei dem die klaren Absichten der Initianten enttäuscht werden? Eine Vermutung geht dahin, dass es dann schwieriger wird, radikale Initiativen zu bekämpfen, weil immer mehr Stimmberechtigte sich erlauben, Zeichen zu setzen, in der Erwartung, dass die Suppe dann schon nicht so heiss gegessen werde, wie die Initianten sie auftischten. Eine andere Vermutung besagt, dass es immer mehr frustrierte Anhänger nicht oder kaum erfüllter Initiativen geben wird, die ihre Quittung in den Wahlen abgeben oder sich in die Stimmabstinenz zurückziehen?
Darf der abgeklärte Pragmatismus, darf die Schadensminderung soweit gehen, das Initiativrecht zu einem qualifizierten Petitionsrecht zurückzustufen? Durch allmähliche Herausbildung von Gewohnheits-Verfassungsrecht?
Ulrich Gut.

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