Die von der SVP lancierte Volksinitiative „Asylmissbrauch stoppen! (Grenzschutzinitiative)“ befindet sich noch im Sammelstadium. Die Diskussion darüber, ob sie ganz oder in Teilen ungültig erklärt werden solle, ist jedoch bereits angelaufen, und die Meinungen darüber gehen auseinander. UNSER RECHT wird in den kommenden Monaten Beiträge veröffentlichen, die unterschiedliche Positionen vertreten.

 

Zur Frage der (Teil-) Ungültigkeit dieser und anderer Volksinitiativen

Von Kurt Fluri

 

Überblick

Bei der „Grenzschutzinitiative“ handelt es sich um eine Volksinitiative der SVP auf Teilrevision der Bundesverfassung in der Form eines ausgearbeiteten Entwurfes (Art. 139 Abs. 2 BV). Sie befindet sich seit dem 28. Mai 2024 im Sammelstadium; die Sammelfrist dauert bis am 28. November 2025.

Verlangt wird eine Ergänzung der Bundesverfassung, und zwar von Art. 57 (Sicherheit) mit einem Art. 57a (Schutz der Landesgrenzen) mit zusammengefasst folgendem Inhalt:

  • verlangt u.a. eine „systematische“ Kontrolle der einreisenden Personen. Für Schweizer Staatsangehörige, für ausländische Staatsangehörige mit einem gültigen Schweizer Aufenthaltstitel sowie für Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind „vereinfachte Verfahren“ vorzusehen.
  • sieht vor, dass per Gesetz „insbesondere für Staatsangehörige aus Herkunftsstaaten mit einer erhöhten Anzahl Staatsangehöriger, die sich illegal in der Schweiz aufhalten, eine Anmeldepflicht für die Einreise“ vorgesehen werden kann.
  • verlangt eine Verweigerung der Einreise für „Personen ohne gültigen Aufenthaltstitel“.
  • verbietet die Asylgewährung für Personen, die „über einen sicheren Drittstaat einreisen“. Der Status der Vorläufigen Aufnahme wird – offenbar für diese Personen – ausgeschlossen.
  • sieht vor, dass der Bundesrat für Personen, welche – inhaltlich – den Flüchtlingsbegriff gem. Art. 3 Abs. 1 AsylG erfüllen, ein jährliches „Asylgewährungskontingent“ gem. Art. 121a Abs. 2 BV („Masseneinwanderungsinitiative“) von höchstens 5‘000 Personen festlegen kann.
  • verlangt von den Behörden aller Staatsebenen eine Meldung von Personen, „die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel oder anderweitige Einreiseberechtigung“ in der Schweiz aufhalten, an den Bund. Dieser hat zusammen mit den Kantonen sicherzustellen, dass „illegal eingereiste oder sich illegal in der Schweiz aufhaltende Personen“ diese innerhalb von längstens 90 Tagen verlassen. Danach würde der „Anschluss an eine Schweizer Sozialversicherung […] und an eine Krankenversicherung ausgeschlossen“.
  • schliesslich erklärt Arbeitsverträge mit Personen gem. Abs. 6 nach Ablauf der dort genannten Frist als nichtig. Ansprüche auf Lohn u.ä. bestünden nicht mehr.

 

Forderung nach Ungültigerklärung

Operation Libero verlangt nun eine gänzliche oder teilweise Ungültigerklärung der Initiative wegen Verletzung des zwingenden Völkerrechts (Art. 139 Abs. 3 BV). Sie begründet dies mit den Forderungen der Initiative, insbesondere in deren zitierten Absätzen 4, 5 und 6, welche implizit die Ausschaffung auch von Folter oder anderer Art grausamer und unmenschlicher Behandlung bedrohter Menschen verlangt. Dadurch würde das Non-Refoulement-Prinzip und damit zwingendes Völkerrecht verletzt.

Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen sind gem. Art. 139 Abs. 3 BV die Verletzung der Einheit der Form, der Einheit der Materie und des zwingenden Völkerrechts. Operation Libero macht, wie erwähnt, letzteres geltend.

 

Ungültig erklärte Volksinitiativen

Von 365 zustande gekommenen Volksinitiativen sind bisher lediglich die vier folgenden ungültig erklärt worden:

 

  • Initiative für vorübergehende Herabsetzung der militärischen Ausgaben („Rüstungspause“/“Chevalier-Initiative“), ungültig erklärt am 15.12.1955 wegen „sachlicher Unmöglichkeit“
  • Initiative gegen Teuerung und Inflation, ungültig erklärt am 16.12.1977 wegen Verletzung der Einheit der Materie
  • Initiative für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik, ungültig erklärt am 20.6.1995 wegen Verletzung der Einheit der Materie
  • Initiative für eine vernünftige Asylpolitik, ungültig erklärt am 14.3.1996 wegen Verletzung des zwingenden Völkerrechts

 

Eine Volksinitiative ist bisher teilweise ungültig erklärt worden, nämlich die Initiative zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer („Durchsetzungsinitiative“), am 20.3.2015, wegen Verletzung des zwingenden Völkerrechts in einem Satz des Initiativtextes.

Anlässlich der Debatte im Nationalrat über die Frage der Gültigkeit der Initiative für eine vernünftige Asylpolitik argumentierte Bundesrat Koller mit dem Unterschied zwischen einer (zulässigen) Verletzung von Völkervertragsrecht, das ja unter Umständen gekündigt werden könne, und einer (unzulässigen) Verletzung von Völkergewohnheitsrecht, in casu des Non-Refoulement-Prinzips, und damit des zwingenden Völkerrechts (14.3.1996). Hinweis: Die Verletzung des zwingenden Völkerrechts ist erst mit der Verfassungsrevision von 1999 in den Katalog der Ungültigkeitsgründe aufgenommen worden, vermutlich im Gefolge dieser Diskussion.

Als weiterer Inhalt des zwingenden Völkerrechts werden in der Rechtslehre die „notstandsfesten Garantien“ der EMRK und des UNO-Pakts II, das Kriegsvölkerrecht, der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und das Verbot von Kollektivstrafen genannt.

 

In dubio pro populo

Die Praxis der Bundesversammlung bei der Beurteilung der recht häufig zur Diskussion stehenden Frage der Ungültigkeit von Volksinitiativen war aus Rücksicht auf deren stark direktdemokratisch legitimierte Position bisher stets äusserst zurückhaltend („in dubio pro populo“). Die genannten vier bzw. fünf Fälle mit gänzlicher oder teilweiser Ungültigerklärung waren denn auch in Bezug auf diese Frage sehr klar – und das Verdikt wurde jeweils mehr oder weniger klaglos akzeptiert.

 

Der Fall der Grenzschutzinitiative

Bei der Prüfung der Frage der teilweisen oder gänzlichen Ungültigerklärung im konkreten Fall der „Grenzschutzinitiative“ ist zuerst zu klären, ob die Initiative im Falle ihrer Annahme durch Volk und Stände direkt anwendbar wäre oder einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. In den Übergangsbestimmungen (Art. 197 Ziff. 17 Abs. 3) verweist die Initiative selbst auf die „erforderlichen gesetzlichen Bestimmungen“, bzw. auf allenfalls notwendige „entsprechende Ausführungsbestimmungen in Form einer Verordnung.“ Somit ist die Notwendigkeit einer Umsetzung mittels Ausführungsgesetzgebung gegeben.

Damit kommt aber auch der in der Rechtslehre verankerte Grundsatz der „harmonisierenden Auslegung“ von allenfalls mit anderen, bereits bestehenden Bestimmungen der Verfassung in Konflikt geratenden neuen Bestimmungen zum Zuge. Wenn nun bei einer wörtlichen Umsetzung dieser Initiative durch Verletzung des Non-Refoulement-Prinzips auszuschaffenden Menschen Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung droht, wird damit gleichzeitig zweifellos und zumindest auch Art. 10 BV (Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit) verletzt. Somit ist auch diese Initiative wenn immer möglich so „harmonisierend“ auszulegen, dass das genannte Grundrecht unserer Verfassung nicht verletzt wird.

 

Persönliche Einschätzung

Wie erwähnt, führen für die Operation Libero die Absätze 4, 5 und 6 der „Grenzschutzinitiative“ zu einer Verletzung zwingenden Völkerrechts. Nach meiner Beurteilung trifft dies aus folgenden Gründen nicht zu:

 

Zu Abs. 4: Im Gegensatz zur 1996 ungültig erklärten Initiative für eine vernünftige Asylpolitik verlangt die „Grenzschutzinitiative“ keine umgehende Wegweisung ohne Rechtsmittel, sondern „erst“ die Nichtgewährung des Asyls und einen Ausschluss der Vorläufigen Aufnahme. Die Konsequenz der Aberkennung dieser beiden Status hingegen bleibt offen – eine Ausschaffung unter Missachtung des Non-Refoulement-Prinzips und damit die Verletzung zwingenden Völkerrechts und auch von Art. 10 BV wird jedenfalls nicht verlangt. Vielleicht gibt es für diese Personen die Möglichkeit von Art. 4 AsylG (Schutzstatus S bei schwerer allgemeiner Gefährdung im Heimatland), wie dies bereits im Falle der Syrien-Flüchtlinge diskutiert worden ist.

Nach meiner Auffassung kann auch bei einer Annahme dieser Bestimmung das Non-Refoulement-Prinzip auf dem Weg der Umsetzung gewahrt werden.

 

Zu Abs. 5: Auch hier wird keine direkte Ausweisung verlangt, sondern „bloss“ die Festlegung eines „Asylgewährungskontingents“ von maximal 5‘000 Personen. Auch hier könnte eine Anwendung von Art. 4 AsylG als Ausweg dienen.

Nach meiner Auffassung kann auch bei einer Annahme dieser Bestimmung das Non-Refoulement-Prinzip auf dem Weg der Umsetzung gewahrt werden.

 

Zu Abs. 6: Dieser zielt auf die „Sans Papiers“: Der Bund soll „sicherstellen“, dass diese innert 90 Tagen die Schweiz verlassen. Zu diesem Zweck sollen AHV- und IV-Leistungen sowie solche der Krankenversicherungen ausgeschlossen werden – nach Ablauf der Frist von 90 Tagen offenbar. Zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen sind ferner ausdrücklich vorbehalten. Somit rechnet die Initiative offensichtlich damit, dass „Sans Papiers“ auch nach Ablauf der Frist von 90 Tagen in der Schweiz bleiben – mithin weiterhin illegal wie bisher.

Auch diese Bestimmung verlangt also keine unmittelbare Wegweisung wie die 1996 ungültig erklärte Initiative. Sie spricht zwar vom „Verlassen“ der Schweiz, aber zusammen mit dem  Entzug der Sozial- und Krankenversicherungsleistungen nach Ablauf der Frist ändert sich für den Status der „Sans Papiers“ kaum etwas.

Nach meiner Auffassung kann auch bei einer Annahme dieser Bestimmung das Non-Refoulement-Prinzip sogar bereits nach dem Initiativtext, also auch ohne Umsetzung auf Gesetzesebene, gewahrt werden.

 

Fazit

Somit komme ich in einer Gesamtbeurteilung zum Schluss, dass die „Grenzschutzinitiative“ weder als Ganzes noch in Teilen zwingendes Völkerrecht verletzt, sondern dies auf dem Weg der Umsetzung auf Gesetzesebene vermeidbar ist. Die Befürchtung der Operation Libero, dass die Annahme der Initiative „politisch und faktisch dennoch zu einer völkerrechtswidrigen Praxis“ führen würde, muss sich nicht bewahrheiten. Eine völkerrechtskonforme Umsetzung ist m. E. möglich, weshalb das hohe Rechtsgut der direktdemokratischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger qua Volksinitiative auch hier beachtet bleiben muss. Es liegt nach meiner Beurteilung kein Grund vor, die „Grenzschutzinitiative“ in Teilen oder gänzlich ungültig zu erklären.

 

Kurt Fluri ist alt Nationalrat (FDP, Solothurn, 2003 – 2023), Rechtsanwalt und Notar. Er ist Vorstandsmitglied von UNSER RECHT.