Im dritten Teil einer Artikelreihe über die Anti-Völkerrecht-Initiative (“Selbstbestimmungsinitiative”) der SVP befassen sich Helen Keller und Yannick Weber mit der Frage nach der Gültigkeit der Anti-Völkerrecht-Initiative (“Selbstbestimmungsinitiative”) der SVP.

“Fazit” des Artikels “Folgen für den Grundrechtsschutz und verfassungsrechtliche Gültigkeit der «Selbstbestimmungs­initiative»“, erschienen in Aktuelle Juristische Praxis (S. 1021 ff.):

„Die «Selbstbestimmungsinitiative» ist unter dem Ge­sichtspunkt des Erfordernisses der Einheit der Materie als problematisch einzustufen. Es ist fraglich, ob über die Rangfrage von Völker- und Landesrecht und eine Un­terteilung des Völkervertragsrechts in zwei Kategorien zwecks Bestimmung seiner Massgeblichkeit in derselben Abstimmung entschieden werden darf. Zweifellos verletzt wird die Einheit der Materie durch die Übergangsbestim­mung. Diese lässt die Stimmbürgerinnen und Stimmbür­ger völlig im Unklaren darüber, ob die «Selbstbestim­mungsinitiative» als implizite Kündigungsaufforderung oder sogar als Kündigungsautomatismus für bestehende Staatsverträge zu verstehen ist und welche Abkommen davon allenfalls betroffen wären.

Es bestehen zudem berechtigte Zweifel, ob die Initian­ten der «Selbstbestimmungsinitiative» das richtige Verfah­ren für die Revision der Bundesverfassung gewählt haben. Weil die Initiative grundlegende Verfassungsprinzipien ab­ändern will, stellt sie fundamentale Grundsätze der schwei­zerischen Verfassungsordnung zur Disposition. Dies müss­te im Verfahren der Totalrevision der BV geschehen.

Im Ergebnis würde die «Selbstbestimmungsinitiati­ve», die angeblich die Volksrechte wahren will, in Tat und Wahrheit die politischen Rechte der Stimmbürger verlet­zen, wenn sie dem Souverän in dieser Form zur Abstim­mung vorgelegt würde. Den Stimmberechtigten würde nicht nur der verfahrensrechtliche Schutz genommen, den das Verfahren auf Totalrevision bietet, sondern auch das Recht, sich zu unterschiedlichen politischen Fragen in se­paraten Abstimmungen äussern zu können.

Nach Art. 139 Abs. 3 BV ist die Vereinigte Bundesver­sammlung für die Ungültigerklärung einer Volksinitiative abschliessend zuständig. Dabei kommt ihr insbesondere bei der Beurteilung der Einheit der Materie ein erhebli­cher Ermessensspielraum zu.151 In der Vergangenheit wurde dieses Ermessen auch schon überschritten: So er­klärte die Bundesversammlung die Ecopop-Initiative im Jahr 2014 aus rein politischen Überlegungen für gültig152, obwohl diese die Einheit der Materie klarerweise nicht wahrte.153 Das Parlament wird sich bei der Behandlung der «Selbstbestimmungsinitiative» vor eine Richtungs­wahl gestellt sehen: Es hat zu entscheiden, welche Bedeu­tung der Abstimmungsfreiheit sowie dem Grundsatz der Einheit der Materie künftig zukommen soll.154

Nach einer allfälligen Annahme der «Selbstbestim­mungsinitiative» könnte jede Volksinitiative auf Teilrevi­sion der Verfassung potenziell die Kündigung von völker­rechtlichen Verträgen zur Folge haben. Beim Entscheid über eine Verfassungsänderung und die Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages handelt es sich aber in den wenigsten Fällen um ein und dieselbe Frage. Unzählige zukünftige Volksbegehren, die lediglich eine Änderung des nationalen Rechts anstreben, würden damit um eine Dimension erweitert, die mit der verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvorgabe der Einheit der Materie nicht kompa­tibel ist. Die Einhaltung des Gebots der Einheit der Ma­terie wäre fortan systematisch gefährdet und mit ihr die durch Art. 34 BV geschützte Abstimmungsfreiheit.

Die Bundesversammlung wird mit ihrem Entscheid über die Gültigkeit der «Selbstbestimmungsinitiative» den Rahmen des Zulässigen für kommende Volksbegeh­ren vorgeben. Die «Selbstbestimmungsinitiative» genügt dem Erfordernis der Einheit der Materie unseres Erach­tens klarerweise nicht. Zudem kommt sie im Kleid einer Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung daher, obwohl sie inhaltlich als Volksinitiative auf mate­rielle Totalrevision der Bundesverfassung erscheint. Es ist deshalb zu wünschen, dass die Bundesversammlung ihren Entscheid über die Zulässigkeit der «Selbstbestim­mungsinitiative» zum Anlass nimmt klarzustellen, dass Volksinitiativen die verfassungsrechtlichen Gültigkeitser­fordernisse zu respektieren haben.“

 

 

 

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