Die Bundesverfassung im Anthropozän

Von Marcel Hänggi

 

Mit seinem Urteil im Fall Klimaseniorinnen v. Schweiz vom 9. April 2024 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in weiten Teilen der Schweizer Politik viel Empörung ausgelöst – bis hin zur trötzelnden Weigerung des Bundesrats, zentrale Punkte des Urteils überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die Unverschämtheit des Gerichts lag aber nicht – wie manche behaupteten – darin, dass es der Schweiz etwas hätte befehlen wollen. Sondern darin, sie an ihre eigenen Werte und Regeln erinnert zu haben, die sie missachtet.

Vor einem Jahr beauftragte mich Greenpeace Schweiz, die Bundesverfassung auf ihre Tauglichkeit für das Zeitalter der Umweltkrisen – das Anthropozän1 – abzuklopfen. Hintergrund war eine angedachte Volksinitiative für eine Totalrevision der BV. Ich nahm den Auftrag als Journalist, der kein Jurist ist, an.

Der Blick durch die entliehene juristische Brille erlaubte mir, einem Thema, mit dem ich mich seit vielen Jahren befasse, neue Facetten abzugewinnen. Unabhängig von meinem ursprünglichen Auftraggeber beschloss ich, aus der Kurzstudie ein Buch zu machen, das im Oktober unter dem Titel «Weil es Recht ist. Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung» erschienen ist. Meine Methode war die wissenschaftsjournalistische: Lektüre von Fachliteratur und Gespräche mit Fachleuten. Dabei blickte ich in zwei Richtungen: Wie schützt die Verfassung die Umwelt vor schädlichen menschlichen Einflüssen – klassisches Umweltrecht –, und wie schützt sie die Menschen und die demokratischen Institutionen vor der Umwelt, wenn diese aus den Fugen gerät?

 

Paradoxon der Umweltpolitik

Dass die schweizerische BV die Umwelt auf dem Papier gut schützt, war mir schon länger bewusst; wie gut sie es tut, hat mich doch verblüfft. Die Erhaltung der Lebensgrundlagen ist ein Zweck der Eidgenossenschaft (Art. 2 Abs. 4). Die Nachhaltigkeit (Art. 73) ist ein «Super-Prinzip» der Verfassung (Anne-Christine Favre2). Konzepte wie Rücksicht auf künftige Generationen, intrinsische Eigenwerte natürlicher Entitäten jenseits ihrer Bedeutung für den Menschen, das Vorsorgeprinzip, der Vorrang des Ökologischen vor dem Ökonomischen, Suffizienz oder Grenzen und Verbote sind in der Politik unbeliebt bis verpönt. In unserer Verfassung haben sie ihren festen Platz. Nähme man sie ernst, wäre die BV eine ausreichende Rechtsgrundlage, um die Wirtschaft zu einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft ziemlich radikal umzubauen, wie die Lausanner Rechtswissenschafterin Dunia Brunner in ihrer Dissertation zeigt.3

Dieser Befund führt natürlich zur Folgefrage: Warum sieht denn die Realität so anders aus, als sie aussehen müsste? Offensichtlich kann man sich leicht auf abstrakte Werte einigen – wer wäre dagegen, die Lebensgrundlagen zu erhalten! –, aber viel schwieriger ist es, diese Werte in konkrete Politik (und konkrete rechtliche Bestimmungen) zu übersetzen, die handfeste Interessen tangieren. Niemand will die Lebensgrundlagen zerstören, und doch fällen wir demokratisch Entscheidungen, die genau das tun. Es ist ein Grundparadoxon der Umweltpolitik; es ist dieser Widerspruch, auf den das Strassburger Urteil das Augenmerk lenkte.

Wenn eine Gesellschaft frei und demokratisch Entscheidungen trifft, die einem geteilten Ziel widersprechen, so läuft ganz offensichtlich etwas falsch. Ich sehe Fehlerquellen auf drei Ebenen: (1) Die Entscheidungen fallen unzureichend informiert, (2) die Verfahren der Entscheidungsfindung sind unzureichend, (3) die Entscheidungen werden unzureichend vollzogen.

 

Demokratie entwickeln

Um diese Situation zu verbessern, müsste die Demokratie verbessert werden. Demokratieformen, die die politikwissenschaftliche Literatur «deliberativ» nennt, sind in der Lage, den Willen des Demos besser abzubilden. Vielerorts, auch in der Schweiz, sind deliberative Demokratieformen wie Bevölkerungsräte in jüngster Zeit ausprobiert worden, in einigen wenigen Staaten sind sie institutionalisiert.

Aber in der Schweiz gibt es den Mythos, unsere direkte Demokratie sei schon perfekt. Bundesrat Albert Rösti sagte in einem Interview nach dem Klimaseniorinnen-Urteil, unsere Klimapolitik könne gar nicht falsch sein, lasse doch kein anderes Land seine Bürger so oft darüber abstimmen wie die Schweiz. Diese Haltung findet sich auch in der Bundesverfassung: Sie nennt den Begriff «Demokratie» respektive «demokratisch» nur dreimal: in der Präambel, in Art. 51, der bestimmt, dass die Kantone demokratische Verfassungen haben müssen, und in Art. 54, der bestimmt, dass sich die Schweiz für die Förderung der Demokratie im Ausland stark macht. Die Förderung (und Weiterentwicklung) der Demokratie auf der Ebene des Bundes selbst ist kein Thema der BV – als sei der Verfassungsgeber seinerzeit davon ausgegangen, dazu gebe es keinen Bedarf.

 

Resilienz

Meine Überlegungen dazu, wie die Demokratie und ihre Verfahren und Instanzen verbessert werden könnten, um das Grundparadoxon der Umweltpolitik aufzulösen, treffen sich mit den Überlegungen zur Frage, wie die Institutionen in Zeiten schwerer Verwerfungen zu schützen sind. Es geht um gesellschaftliche Resilienz (übrigens ein Zweck des Übereinkommens von Paris: Art. 2 Abs. 1 Bst. b).

«Resilienz» ist, ähnlich wie «Nachhaltigkeit», durch inflationäre Verwendung zu einer Floskel verkommen, hat aber eigentlich eine weit reichende Bedeutung. Der Weltklimarat IPCC definiert eine klimaresiliente Entwicklung als «a process of implementing mitigation and adaptation options to support sustainable development for all in ways that support human and planetary health and well-being, equity and justice.»4

Um Resilienz zu erreichen, braucht es laut dem IPCC (1) systemische Antworten statt blosser Symptombekämpfung, (2) adaptive Antworten, also das ständige Nachjustieren nicht perfekter Lösungen statt der Suche nach Perfektion, und (3) eine Pluralität von Wissensformen, zu denen natürlich wissenschaftliches, aber beispielsweise auch indigenes Wissen gehört.

 

Pacha Mama

Das öffnet ein Fenster für die vielleicht überraschendste Einsicht, die mir meine Arbeit bot: Ecuador hat 2008 indigenes Wissen in seine Verfassung ingeriert, indem es «Pacha Mama» den Status eines Rechtssubjekts zuspricht. Das Wort aus der Quechua-Sprache bezeichnet das, was wir «Natur» nennen, fasst es aber ziemlich anders auf als beispielsweise unsere Bundesverfassung, die ihrem Nachhaltigkeitsartikel eine Dichotomie von Mensch und Natur zugrunde legt, die es in Pacha Mama nicht gibt – und die auch wissenschaftlich überholt ist.

Der Verfassungsrechtler Pascal Mahon hat in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Neuenburg 2023 vorgeschlagen, wir sollten uns von Pacha Mama inspirieren lassen.5 Natürlich kollidieren da Rechtsvorstellungen. Um die Gegensätze auszugleichen, braucht es einen ständigen Aushandlungsmechanismus – ein solches Recht ist, in den Worten des deutschen Rechtswissenschafters Andreas Gutmannn, «in permanenter Konstruktion» und «unfertig und stets im Werden begriffen»6 – also, ganz im Sinne der Resilienz, adaptiv und plural.

Einfach ist das nicht. Aber dass es einfach wird, Rechtsstaat und Demokratie in der Epoche der Umweltkrisen (und der Trumps, Putins und Mileis) zu erhalten, wäre ein vermessener Anspruch.

 

Dr. phil. h.c. Marcel Hänggi ist Wissenschaftsjournalist und Buchautor und war Mitinitiant der Gletscher-Initiative. Der vorliegende Artikel basiert auf seinem im Oktober im Rotpunktverlag erschienenen Buch «Weil es Recht ist. Vorschläge für eine ökologische Bundesverfassung».

 

Fussnoten:

[1] Die International Union of Geological Sciences (IUGS) hat es dieses Jahr abgelehnt, den Begriff «Anthropozän» als offizielle Bezeichnung für unsere erdgeschichtliche Epoche einzuführen. Ich halte es mit der Minderheitenmeinung in der IUGS-Fachgruppe und verwende den Begriff, der sich namentlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften auch längst etabliert hat.

[2] A.-Ch. Favre: «La constitution environnementale», in: Zelger, Ulrich et al. (Hg.): Verfassungsrecht der Schweiz | Droit constitutionnel suisse, Zürich 2020, Seite 2035.

[3] D. Brunner: Vers une économie circulaire durable en Suisse. Analyse systémique et prospective des apports et limites du cadre juridique, Lausanne 2022.

[4] IPCC: Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability (AR6 WG2), Genf 2022, Seite 2734.

[5] P. Mahon: «Urgence, climat et droit (constitutionnel)», ZSR, 142 I (2023), Seiten 405–428.

[6] A. Gutmann: Hybride Rechtssubjektivität. Die Rechte der ‹Natur oder Pacha Mama› in der ecuadorianischen Verfassung von 2008, Baden-Baden 2021, Seiten 44, 204, 266.