Mit der Annahme der Selbstbestimmungsinitiative würde an der Geltung der Menschenrechte in der Schweiz nichts ändern, schreibt Professor Marcel A. Niggli (Universität Freiburg) in der “Weltwoche” (4.1.2018, S. 14 f.) unter dem Titel “Das letzte Wort”. Die in der EMRK garantierten Rechte würden weiter gelten. Es gehe nur darum, “wer im Einzelfall über die Anwendung und Auslegung dieser Grundrechte bestimmen darf. Sind das nationale oder internationale Gerichte? Das ist der springende Punkt.” Und selbst wenn die Schweiz die EMRK kündigen würde, träte bezüglich Grundrechtsschutz “keine Fundamentaländerung” ein. “Denn die von der EMRK festgeschriebenen Grundrechte werden ja bereits durch die schweizerische Bundesverfassung garantiert.”

Die Abstimmung über diese Initiative kann durchaus primär als Plebiszit über Rechtsschutz verstanden werden. 1974 trat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Kraft. Seit gut 40 Jahren führen deshalb Menschen, die in der Schweiz leben, Beschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Sie tun dies im Bewusstsein, dass dessen Urteil in der Schweiz verbindlich ist,  respektiert wird und, wenn ihnen der EGMR Recht gibt, eine Revision des letztinstanzlichen Schweizer Urteils zur Folge hat.

Wird eine Mehrheit auf diesen Schutz verzichten wollen?

Die Anerkennung der Verbindlichkeit der EGMR-Urteile ist eine zentrale Vertragspflicht der EMRK. Ein Vertragsstaat, der wie Russland erklärt, er beanspruche das “letzte Wort” und nehme sich das Recht, die  Urteile des EGMR nur noch nach Gutdünken zu respektieren, begibt sich in einen Dauerzustand schwerer Vertragsverletzung und sollte die Konvention konsequenterweise kündigen.

Befürworter und Gegner der Initiative werden im Abstimmungskampf mit Urteilen argumentieren. Die Befürworter werden sagen: Seht, wie wichtig dieser Schutz, diese Urteile aus Strassburg, für die Betroffenen, und wie förderlich sie für die Rechtsentwicklung in unserem Land waren. Siehe hierzu als Beispiele die “Geschichten” von Schutzfaktor M.

Die Gegner werden welche herausgreifen, gegen die sie glauben Empörung  schüren zu können.

Aber hat Professor Niggli Recht, wenn er schreibt, die Annahme dieser Initiative würde die Geltung der Menschenrechte in der Schweiz nicht verändern? Besteht denn grundsätzlich kein Zusammenhang zwischen den Rechten, die in eine Verfassung oder eine Konvention geschrieben werden, und ihrem Schutz? Papier ist geduldig, besonders in einem Land, das keine Verfassungsgerichtsbarkeit über einfache Gesetze kennt.  Professor Niggli geht darauf nicht ein, aber aus Initiantenkreisen wird erklärt, die Initiative verfolge auch das Ziel, den bundesgerichtlichen Schutz der Grundrechte unserer eigenen Verfassung abzuschaffen, da er den Grundsatzentscheid  missachte, dass die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit wolle.

Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen den Rechten und ihrem Schutz. Dies zeigte sich nur schon daran, dass die “Selbstbestimmungsinitiative” ergriffen wurde, um die Bahn frei zu machen für Volksinitiativen zur  Einschränkungen von Grundrechten. Zweifellos werden sich die Initianten auf diesen Willen zurückbesinnen und ihre Anhänger damit motivieren. Aber es geht nicht nur um Volksinitiativen, sondern auch um die  Versuchungen des Gesetzgebers, unter dem Druck der Aktualität,  des Zeitgeists und wechselnder parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse die Verfassung zu missachten, da das Bundesgericht an verfassungswidrige Gesetzesbestimmungen gebunden ist.

Volk und Stände können nun entscheiden, ob sie dieser Freiheit der Legislative zur Missachtung der Bundesverfassung auch die Grundrechte aussetzen wollen.

Wer Rechtsschutz abbaut, schwächt die Geltung der Rechte. Mit Auswirkungen auf die Entwicklung des materiellen Rechts ist zu rechnen, und sie entsprechen Motiv und Willen der Selbstbestimmungs-Initianten.

Siehe auch unseren Beitrag zum Interesse der Schweiz am Fortbestand und an der Stärkung eines europäischen Rechtsschutzsystems: Link.

 

 

 

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