Von Dr. iur. Dominik Elser, Geschäftsleiter des Vereins Unser Recht

Ausgerechnet am 12. September, dem Schweizer Verfassungstag, debattierte der Ständerat erneut, ob die Verfassungsgerichtsbarkeit erweitert werden soll. Mit 29 zu 15 Stimmen lehnte er gleichlautende Motionen der Ständeräte Stefan Engler (Mitte/GR) und Mathias Zopfi (Grüne/GL) ab. Die Motionen sind damit erledigt und kommen nicht in den Nationalrat. Frühere Anläufe sind 2012 und im Rahmen der Justizreform 1999 bereits gescheitert.

Wie verlief die Debatte und weshalb reichte es auch dieses Mal nicht?

Die Motionäre, gestützt von einer knappen Mehrheit der Staatspolitischen Kommission, sahen vor allem in drei Bereichen Handlungsbedarf: (1) beim Schutz der Grundrechte, die nicht über die Europäische Menschenrechtskonvention und den EGMR gesichert sind, (2) wenn der Bund seine Kompetenzen zulasten der Kantone überschreitet und (3) bei der Möglichkeit des Parlaments, Volksinitiativen allzu frei umzusetzen.

Im Unterschied zu früheren Anläufen stellten die beiden Motionen nur die Grundsatzfrage und äusserten sich nicht zur möglichen Ausgestaltung einer solchen Gerichtsbarkeit. Hätte sich die Ablehnung sonst an einzelnen Details festgemacht, führte der Verlauf der Debatte vom 12. September vielleicht zum Kern der Diskussion: Traut das Parlament dem Bundesgericht zu, das Politische herauszuhalten und in erster Linie sachlich zu urteilen?

Geht es wirklich um «Rechtsstaat vs. Demokratie»…

In den Mehrheits- und Minderheitspositionen aus der Kommission ging es zunächst um das oft zitierte Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Dass auch verfassungswidrige Bundesgesetze vom Gericht angewendet müssen, habe mit der direktdemokratischen Legitimation zu tun.  Danach strichen Carlo Sommaruga (SP/GE) und Paul Rechsteiner (SP/SG) hervor, dass dies eine bewusste Entscheidung der «pères fondateurs de la Suisse moderne» bzw. der Gründerväter war. Die ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit würde «Volksentscheide zu Bundesgesetzen auf den Richtertisch legen» und so die «Volksrechte degradieren», argumentierte Daniel Fässler (Mitte/AI).

Verschiedene Redner – mit Ausnahme der Bundesrätin meldeten sich nur Männer zu Wort – hielten dagegen, die Demokratie würde gerade gestärkt, wenn die Bundesverfassung auch gegenüber Bundesgesetzen durchgesetzt werden könne. Mathias Zopfi stellte klar, dass die Verfassung höher demokratisch legitimiert sei. Und Ständerat Benedikt Würth (Mitte/SG) wies darauf hin, dass die Verfassung in der Schweiz sogar mit direktdemokratischen Mitteln geändert werden könne («und das ist ein Leichtes», gerade im Unterschied zur USA).

… um Machtfragen …

In der weiteren Debatte wurde dann aber vermehrt explizit, dass es sich um eine Machtfrage handelt: Verfassungsgerichte führten zu einer «Machtkonzentration» und zur «Entmachtung des Parlamentes», votierte Beat Rieder (Mitte/VS). Sein Fraktionskollege Benedikt Würth bestätigte zwar, dass das Parlament seine «Macht begrenzen» würde, es aber im Kern um eine «Entflechtung der Zuständigkeiten» gehe. Auch für den Bundesrat gehe es um «Machtverschiebung» und «Machtfrage», hielt Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) fest.

So wurde dann auch darüber diskutiert, ob man den Entscheid über die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen vom Parlament wirklich an das Gericht abgeben wolle. So wären 3:2 Entscheide möglich, die parteipolitische Zugehörigkeit der Richter/-innen könnte im Vordergrund stehen und Recht sei ohnehin immer politisch. Paul Rechsteiner warnte etwa vor Verhältnissen in den USA, wo der Supreme Court zum «politischsten Gericht der Welt» geworden sei. Charles Juillard (Mitte/JU) ging in eine ähnliche Richtung: das jurassische Verfassungsgericht hätte sich am Anfang noch zurückgehalten und sei mit der Zeit immer aktiver geworden und habe «presque systématiquement» gegen Regierung und Parlament entschieden, und «quand même un peu de politique» gemacht. Beat Rieder ging noch weiter und schien die fachliche (und vielleicht auch persönliche) Kompetenz der Richter/-innen anzuzweifeln: «Den Mehrwert eines solchen Verfassungsgerichtes kann ich also momentan nicht sehen, ausser Sie würden mir diese dreizehn oder neun Superrichter bringen, die wirklich besser sind als die übrigen in der Schweiz».

So wurde die konkrete Ausgestaltung einer möglichen Verfassungsgerichtsbarkeit doch noch zum alles entscheidenden Punkt. Wie politisch die Entscheide schlussendlich wären, hängt auch davon ab, in welchem Verfahren und in welcher Zusammensetzung welche Gerichte urteilen dürften, ob Bundesgesetze verfassungsmässig sind. Wie es Andrea Caroni (FDP/AR) ausdrückte: mit der richtigen Ausgestaltung ergebe sich «eigentlich ein Dialog zwischen den Gewalten». Und Benedikt Würth doppelte nach: «Wie scharf diese Verfassungsjustiz schlussendlich ausgestaltet wird, ist Sache dieses Prozesses» – der Prozess der weiteren Umsetzung, nachdem der Ständerat die Motionen annähme.

In der Debatte zeichnete bei einem Teil der Detailfragen eine wahrscheinlich mehrheitsfähige Richtung ab. Erstens sollte nur das Bundesgericht und nicht auch die (kantonalen) Vorinstanzen die Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen prüfen (konzentrierte Kontrolle). Und zweitens das Bundesgericht einem Bundesgesetz nur im einzelnen Fall die Anwendung verwehren  und es dürfte das Gesetz auch nicht aufheben.

… oder doch um den Einfluss der Parteizugehörigkeit bei Richterwahlen?

Heikler ist wohl die Frage nach der Zusammensetzung des Spruchkörpers: Ständerat Caroni brachte dafür die Abteilungskonferenz ins Spiel (statt der üblichen Fünferbesetzung). Dahinter steht aber eine viel grundsätzlichere Diskussion: Liegt das Problem nicht bei der Parteizugehörigkeit von Richter/-innen und beim Wahlverfahren? Sollte das Bundesgericht zu einem Verfassungsgericht ausgebaut werden, müssten vielleicht andere Personen in einem anderen Verfahren für andere Amtsdauern gewählt werden. Das wurde am 12. September im Ständerat nicht ausgesprochen.

Auch wenn dieser neuerliche Anlauf für eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit endet, bevor sie richtig in Fahrt kam: Die Diskussion im Ständerat lässt vermuten, was der springende Punkt ist. Die Schweiz wird nicht darum herumkommen, nochmals über das Verhältnis der Parteipolitik und der Justiz zu diskutieren. Welche staatspolitischen und rechtsstaatlichen Konsequenzen hat es, wenn dem Bundesgericht kein unpolitisches Urteil über die Verfassung zugemutet wird? Können Richter/-innen überhaupt unpolitisch sein? In welchem Verfahren wären sie zu wählen, um ihre Politikfreiheit möglichst zu begünstigen? Oder wie ist umgekehrt damit umzugehen, dass Richter/-innen zwangsweise politische und weltanschauliche Einstellungen haben? «Unser Recht» hat sich mit diesen zuletzt am Podium anlässlich der Mitgliederversammlung vom 10. Mai 2022 behandelt. Alt Bundesrichter Niccolò Raselli zudem in diesem Beitrag die Ausgangslage nach der Ablehnung der Justiz-Initiative geschildert.

Wir verfolgen diese Fragen aufmerksam weiter – wie auch allfällige neue Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit.

 

* Bild: Superikonoskop, Wikimedia Commons, Lizenz CC BY-SA 4.0.


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