Von Dr. iur. Dominik Elser, Geschäftsleiter des Vereins Unser Recht

«Unser Recht» hat in einem Beitrag nachgezeichnet, wie der Ständerat im September 2022 einen neuen Anlauf für eine Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen abgelehnt hat. Offen gestritten wurde insbesondere über zwei Dinge: die genaue Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit (kantonale Verfahren, Zusammensetzung des Spruchkörpers) und, wohl entscheidender, die Frage der Macht. Auch wenn diese Frage nicht ausbuchstabiert wurde, so wurde klar: das Parlament will die Auslegungs- und die Entscheidungs-Macht über die Verfassung bei sich behalten. Das Parlament will in Gesetzgebungsverfahren selber und abschliessend beurteilen können, ob es ein neues Bundesgesetz für verfassungsgemäss hält und ob es dieses – bei zweifelhafter Verfassungsmässigkeit – dennoch verabschieden will.

Die Argumente waren im Ständerat über die politischen Lager hinaus verteilt. Es entstand nicht der Eindruck, dass ein bestimmtes politisches Lager Freiräume für eine bestimmte politische Agenda behalten will. Vielmehr dürften sich viele gedacht haben, es könne sich sowieso empfehlen, Freiräume bei der Ausgestaltung von Bundesgesetzen zu behalten – man weiss nie, bei welchem eigenen Anliegen man darum froh sein wird.

Im Folgenden soll auf einige Beispiele aus der neueren Gesetzgebung hingewiesen werden, bei denen die Verfassungsmässigkeit zumindest bezweifelt wurde. An dieser Stelle kann auch nicht abschliessend geklärt werden, inwiefern folgende Beispiele wirklich verfassungswidrig sind. Es geht uns in erster Linie um den Hinweis, dass die Machtfrage bei der Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit keine Abstrakte oder Theoretische ist. Im gesetzgeberischen Alltag stellt sie sich regelmässig.

Solar und Wind: Pauschale Interessenabwägung im Gesetz

In einem parlamentarischen Schnellverfahren haben Ständerat und Nationalrat zwischen 15.–30. September 2022 die sogenannte «Solaroffensive» beschlossen. Das «Bundesgesetz über dringliche Massnahmen zur kurzfristigen Bereitstellung einer sicheren Stromversorgung im Winter» enthielt Änderungen des Energiegesetzes und wurde als Entwurf 4 dem indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative angehängt.

Das Gesetz sollte den Bau von Photovoltaik-Grossanlagen und Speicherwasserkraftwerken erleichtern, indem es eine pauschale Interessenabwägung vornimmt: das Interesse an der Realisierung geht anderen nationalen, regionalen und lokalen Interessen grundsätzlich vor  (Art. 71a Abs. 1 und Art. 71b Abs. 1 EnG). Ausserdem gilt der Bedarf von Gesetzes wegen als ausgewiesen und es besteht keine Planungspflicht. Das Gesetz qualifiziert die Photovoltaik-Grossanlagen als von nationalen Interesse und standortgebunden –

Damit nimmt das Gesetz eine pauschale Interessenabwägung vor. Das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) will Objekte von nationaler Bedeutung mittels eines Inventars schützen und «ungeschmälert erhalten» (Art. 6 Abs. 1 NHG). Von der Erhaltung abgewichen werden darf nur, «wenn ihr bestimmte gleich- oder höherwertige Interessen von ebenfalls nationaler Bedeutung entgegenstehen». Die Solaroffensive macht klar, bei welchen Anlagen das von Gesetzes wegen – ohne Planung und ohne Abwägung im Einzelfall – gegeben ist. Der Nationalrat fügte einige Änderungen ein, die gemäss SDA-Meldung «für die Verfassmässigkeit der Beschlüsse» sorge. Der Nationlrat fügte etwa ein, dass die NHG-Pflichten zur grösstmöglichken Schonung (darunter Wiederherstellung und Ersatz) erhalten bleiben, auch wenn von der ungeschmälerten Erhaltung abgewichen würde. Ausserdem bleiben die neuen Photovoltaik-Grossanlagen ausgeschlossen in Mooren und Moorlandschaften, in Biotopen von nationaler Bedeutung und in Wasser- und Zugvogelreservaten. Was die Verfassung und andere Gesetze absolut schützt, soll auch die Solaroffensive nicht aushebeln.

Ob diese Korrekturen ausreichen, um die Verfassungmässigkeit zu wahren, wurde stark angezweifelt. Unter dem Eindruck der Energiekrise nahm man aber gewisse Ungenauigkeiten in Kauf. Wie es Nationalrat Matthias Jauslin ausdrückte (FDP/AG):

«Die FDP-Fraktion bedankt sich ganz ausdrücklich bei der UREK-N, dass sie wichtige Korrekturen vorgenommen und einen Kompromiss erarbeitet hat, der nahe an der Verfassungsmässigkeit liegt. Er ist nicht perfekt und noch immer mit Beigeschmack, aber wenigstens geniessbar. Es ist ein Gesetz mit Ablaufdatum.»

Der lauteste Vorwurf, das Gesetz bleibe trotz der Änderungen klar verfassungswidrig, kam von Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Raumplanungs-, Bau- und Umweltrecht an der Universität Zürich. Der Zürcher Staatsrechtler kritisierte insbesondere drei Punkte:

  1. Der pauschale Interessenabwägung (zulasten des Umweltschutzes) in einem Gesetz
  2. Die fehlende Planungspflicht greife in die Hoheit der Kantone ein. Ordentliche Bewilligungsverfahren sind nicht mehr möglich.
  3. Drittens werde die Dringlichkeitsklausel unzulässig angewendet. Die geplanten Energienanlagen könnten gar nicht kurzfristig neue Energie bereitstellen.

In der eben begonnen Frühjahrssession finden Beratungen über eine Windoffensive statt, bei der sich ähnliche Fragen wieder stellen (Artikel der NZZ vom 25.01.2023). Neu sollen die Kantone die Baubewilligungen für Windparkprojekte erteilen, nicht mehr die Gemeinden. Die zuständige Parlamentskommission und das Bundesamt für Justiz waren der Ansicht, dieser Eingriff in die kantonale Autonomie sei von der Bundeskompetenz abgedeckt. Prof. Griffel widerspricht dezidiert und plädiert für eine neue Verfassungsbestimmung, «die es dem Bund ermöglichte, grössere Energieanlagen schweizweit koordiniert zu planen».

Das «Dringliche Gesetz zur Beschleunigung von fortgeschrittenen Windparkprojekten und von grossen Vorhaben der Speicherwasserkraft» soll die Solar-Bestimmungen im Energiegesetz um Windkraft-Bestimmungen ergänzen bei Art. 71b und 71c des Energiegesetzes (Geschäftsnummer 22.461). Die Vorlage kommt am 08.03.2023 erstmals in den Nationalrat. Affaire à suivre.

Kantonale Mindestlöhne mit Gesamtarbeitsverträgen verhindern?

Ein zweites Beispiel befindet sich noch in einer Vorphase der Gesetzgebung: Nationalrat und Ständerat haben eine Motion von Ständerat Erich Ettlin (Mitte/OW) angenommen, die allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge kantonalen Mindestlöhnen vorgehen lassen will (Geschäftsnummer 20.4738). Die Motion hält die kantonalen Mindestlöhne (namentlich in Neuenburg und Genf, mitgemeint wohl auch im Jura) für eine «schwere Belastungsprobe für die bewährte Sozialpartnerschaft in der Schweiz». Das Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen soll deshalb so ergänzt werden, dass die entsprechenden GAV den kantonalen Gesetzen vorgehen.

Der Bundesrat äusserte deutliche Kritik an der Motion:

«Das Anliegen des Motionärs erachtet der Bundesrat allerdings aus verschiedenen Gründen als problematisch. Mit dem Anliegen des Motionärs soll die verfassungsrechtliche Kompetenz der Kantone, sozialpolitisch tätig zu werden und sozialpolitische Mindestlöhne festzulegen, beschnitten werden. Zudem soll ein allgemeinverbindlicher GAV kantonalen Gesetzen oder gar kantonalen Verfassungen vorgehen. Ein allgemeinverbindlich erklärter GAV geniesst jedoch nicht die demokratische Legitimation, wie sie ein kantonales Gesetz geniesst. … Mit der Realisierung des Anliegens des Motionärs würde der Bundesgesetzgeber den Volkswillen auf Kantonsebene, föderalistische Prinzipien und die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung aushebeln.»

In der Beratung im Ständerat im Juni 2022 begründete Alex Kuprecht (SVP/SZ) die Ablehnung der ständerätlichen Kommission wie folgt:

«Die WAK-S hat die Motion eingehend diskutiert und ist zum Schluss gekommen, dass es aus demokratie- und staatspolitischen Gründen problematisch sei, Gesamtarbeitsverträge, bei denen es sich um private Vereinbarungen handelt, dem kantonalen Recht vorzuziehen. Die Einführung von Mindestlöhnen basiere auf demokratischen Entscheiden, die jeweils von der Bevölkerung der betroffenen Kantone getroffen und vom Bundesgericht bestätigt würden.»

Ständerat Paul Rechsteiner (SP/SG) spitzte das verfassungsrechtliche Problem zu: «Was Sie hier wollen, ist ein Eingriff in die kantonale Souveränität, deshalb sind auch die Kantone dagegen.» (Nebenbei: Rechsteiner hat sich in der Ständeratsdebatte vom September 2022 dezidiert gegen die Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit geäussert – offensichtlich aus grundsätzlicher Überzeugung, unabhängig von Sachgeschäften wie dem vorliegenden.) Der Ständerat stimmte dann der Motion deutlich mit 28:16 Stimmen zu.

Im Nationalrat spielte Cédric Wermuth (SP/AG) direkt auf die Verfassungsgerichtsbarkeit an:

«Hätte dieses Land ein Verfassungsgericht – und es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen -, würde diese Motion vom Verfassungsgericht eindeutig kassiert. Es gibt keine Möglichkeit, die kantonale Souveränität in sozialpolitischen Fragen zu übersteuern. Es gibt eine Verfassung in diesem Land, und diese gilt auch dann, wenn einem der Inhalt von Entscheiden, die in den Kantonen gefällt werden, nicht passt. So willkürlich kann man das nicht auslegen.»

Die Abstimmung im Nationalrat im Dezember 2022 fiel dann mit 95:93 (bei vier Enthaltungen) denkbar knapp aus – aber doch zugunsten der Motion. Auf Twitter kommentierte Nationalrat Roland Fischer (GLP/LU) den Entscheid des Nationalrats als verfassungswidrig:

«Man kann für oder gegen Mindestlöhne sein. Aber die Aushebelung von demokratischen Beschlüssen der Kantone durch vom Bundesrat als allgemein verbindlich erklärte Gesamtarbeitsverträge geht nicht.»

Der Ball liegt nun wieder beim Bundesrat, der ja eindringend auf die verfassungsmässigen Probleme hingewiesen hat. Auch hier gilt also: affaire à suivre.

Tonnagesteuer: Strukturerhaltung für eine florierende Branche?

Zum Abschluss eine weitere noch hängige Gesetzesrevision, bei der die Verfassungsmässigkeit noch zu reden geben wird: die Einführung der sogenannten Tonnagesteuer (Bundesgesetz über die Tonnagesteuer auf Seeschiffen, Geschäftsnummer 22.035). Gewinne aus dem Betrieb von Seeschiffen sollen nicht mehr nach dem erzielten Gewinn, sondern nach der Nettoraumzahl (Ladekapazität) besteuert werden. Der Bundesrat kann die fiskalischen Auswirkungen nicht abschätzen. Erfahrungen aus anderen Ländern legen bedeutende Steuereinbussen nahe, handelt es sich doch faktisch um eine reduzierte Gewinnsteuer.

Am 13.12.2022 stimmte der Nationalrat der Vorlage als Erstrat mit 99:85 Stimmen zu. In der Debatte bezweifelte namentlich Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP/BE) die Verfassungsmässigkeit der Vorlage. Sie vertrat dabei die Minderheitsposition der vorberatenden Kommission. Es handle sich um eine «Gewinnsteuersubvention» für eine einzelne Branche, was den Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Art. 127 Abs. 2 BV) verletze.

Der Bundesrat liess diese Frage in zwei Rechtsgutachten untersuchen. Das eine hielt die Steuer für verfassungswidrig. Das andere Gutachten hielt die Steuer für verfassungskonform, wenn sie als Strukturpolitik im Sinne von Art. 103 BV angesehen werden könne. Also als wirtschaftspolitische Massnahmen zugunsten eines «Wirtschaftszweigs … wenn zumutbare Selbsthilfemassnahmen zur Sicherung ihrer Existenz nicht ausreichen».

Ob eine Branche, die zuletzt Rekordgewinne erzielte (Artikel der CH Media Zeitungen vom 12.12.2022), existenzgefährdet ist, kann zumindest bezweifelt werden.

Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats, hat am 14.02.2023 der Verwaltung Zusatzaufträge erteilt, bevor sie im Juni erneut über die Vorlage beraten will. Eine zentrale Frage ist dabei genau auch die Verfassungsmässigkeit.

Ein drittes mal gilt: Affaire à suivre.

 

* Bild: VBS/DDPS – Jonas Kambli, Lizenz CC BY-NC-ND


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