Anna Coninx, Assistenzprofessorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Luzern und Vorstandsmitglied von “Unser Recht”, setzt sich für eine Revision des Sexualstrafrechts ein, die den Willen der Frau, ihre sexuelle Selbstbestimmung, stärker schützt. In einem Artikel, der am 15.6.2020 im Wissensmagazin “cogito” der Universität Luzern erschien (Link zum Artikel), schreibt sie:

“(…) Unser Sexualstrafrecht gründet auf der Idee der sexuellen Selbstbestimmung: Jede Person soll selbst bestimmen können, mit wem und wann sie sexuelle Handlungen vornimmt. Das Sexualstrafrecht soll also Menschen, die nicht in einen Sexualkontakt involviert werden wollen, schützen. Geschlechtsverkehr, den nicht beide Sexualpartner wollen, wird heute aber nur dann als schweres Unrecht qualifiziert, wenn das Opfer zum Geschlechtsverkehr genötigt wurde. Der Täter muss also Gewalt anwenden, das Opfer bedrohen, unter psychischen Druck setzen oder zum Widerstand unfähig machen. Hat der Täter sich wie in unserem Beispiel über ein ausdrückliches «Nein» des Opfers hinweggesetzt, aber kein Nötigungsmittel angewendet, kann die Tat nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung bestraft werden. Der Täter könnte höchstens – quasi hilfsweise, weil kein anderer Tatbestand zur Verfügung steht – mit einer Busse wegen sexueller Belästigung bestraft werden. Der Tatbestand der sexuellen Belästigung stellt aber ein ganz anderes Verhalten unter Strafe, etwa einen Griff an den Po oder eine ungewollte enge Umarmung. Geschlechtsverkehr gegen den Willen einer Person ist allerdings ein weit gravierenderes Unrecht.

Weshalb wird ein solcher massiver Übergriff nach geltendem Recht nicht angemessen bestraft? Der Grund liegt darin, dass der Gesetzgeber es bis heute verpasst hat, den Vergewaltigungstatbestand neu zu formulieren. Zwar wurde das Sexualstrafrecht im Laufe des 20. Jahrhunderts stellenweise reformiert. So sprechen wir heute nicht mehr von «Straftaten gegen die Sittlichkeit», sondern von «Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung». (…)

Obwohl die Vergewaltigung nach unserem heutigen Rechtsverständnis kein Angriff auf die Ehre oder die «Sittlichkeit» mehr ist, ist das zweistufige Grundkonzept (zuerst Nötigung, dann Geschlechtsverkehr) beibehalten worden. Ein «Nein» reicht also auch heute noch nicht aus. Das widerspricht einem Sexualstrafrecht, das die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung schützt, wonach nicht-einvernehmlicher Geschlechtsverkehr per se strafwürdig ist. Unser veraltetes Sexualstrafrecht erfüllt daher auch die menschenrechtlichen Vorgaben nicht, die die Schweiz mit der Ratifizierung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt freiwillig übernommen hat. Diese Vorgaben verlangen, dass nicht-konsensuale sexuelle Handlungen und Geschlechtsverkehr angemessen unter Strafe gestellt werden. Das heutige Gesetz sendet zudem eine verheerende Botschaft nicht nur an die Opfer von sexuellen Übergriffen, sondern auch an die potenziellen Täter: «Sofern ihr das Opfer nicht durch die Anwendung von Gewalt oder Drohungen nötigt, muss es euch nicht kümmern, ob das Opfer den Geschlechtsverkehr will oder nicht.» Damit werden unweigerlich auch gut gemeinte Versuche unterminiert, die Menschen im Hinblick auf einen respektvolleren Umgang miteinander zu sensibilisieren. Ein entsprechendes Umdenken in der Gesellschaft wird deutlich erschwert, und die Opfer werden im Stich gelassen.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend nötig, dass sich die Schweiz umfassend und mit Überzeugung den derzeitigen internationalen Reformbewegungen im Sexualstrafrecht anschliesst. (…)”

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Gegen eine solche Revision des Sexualstrafrechts wurde gelegentlich eingewandt, sie verschiebe die Beweislast: Der Mann müsse beweisen, dass die Frau einverstanden gewesen sei (Link zu einem einschlägigen Text). Die Befürworterinnen einer Revision bestreiten dies. Die Anklage müsse beweisen, dass die Frau den sexuellen Akt abgelehnt habe.

Hierzu Nora Scheidegger, Oberassistentin und Habilitandin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern, in einem Interview, erschienen am 21.5.2019 in der NZZ (Link):

“Opfer und Täter werden mehrmals befragt, die Justiz analysiert diese Aussagen und eruiert, wie glaubhaft sie sind. Und wenn sich das nicht klären lässt, gilt weiterhin: in dubio pro reo. Dann muss das Gericht den Beschuldigten freisprechen. Das Einverständnisprinzip hat nichts mit einer Umkehr der Beweislast zu tun. Auch die Unschuldsvermutung bleibt bestehen.”

Wenn sich herausstellen sollte, dass dieser Beweis so schwer zu führen ist, dass weiterhin Männer, die sich über ein Nein hinwegsetzten, oft freigesprochen werden, bleibt trotzdem der Fortschritt, dass sich das Gesetz, wie Anna Coninx schreibt, zu einem “respektvolleren Umgang miteinander” bekennt, statt den Eindruck zu erwecken, dem Gesetzgeber sei der Wille der Frau gleichgültig.

 

 

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