Von alt Bundesrichter Niccolò Raselli haben wir diesen Beitrag  erhalten, für den wir ihm bestens danken:

Im Zusammenhang mit den zur Bekämpfung der Corona-Krise behördlich angeordneten Betriebsschliessungen stellt sich die Frage, ob die Massnahme von den Betroffenen entschädigungslos hinzunehmen ist. Eine Antwort könnte sich aus der sogenannten Sonderopfer-Theorie ergeben, die das Bundesgericht im Zusammenhang mit Entschädigungsforderungen wegen Enteignung bzw. engeignungsähnlicher Massnahmen entwickelt hat.

In BGE 69 I 234, auf welche Entscheidung das Bundesgerichtes auch in neueren Entscheidungen regelmässig zurückverwiesen hat, wird die Sonderopfer-Theorie wie folgt umschrieben: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt als entschädigungspflichtige Enteignung nicht bloss die Entziehung von Eigentums- oder andern Privatrechten oder die Begründung von solchen andern dinglichen Rechten an bestimmten Sachen für ein öffentliches Unternehmen durch Verwaltungsverfügung; sondern unter den Begriff der Enteignung können auch blosse verwaltungsrechtliche oder polizeiliche Gebote oder Verbote fallen, wodurch der Eigentümer einer Sache in der Verfügung über diese oder in deren Benutzung beschränkt wird. Wohl handelt es sich bei solchen Verfügungen, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, in der Regel um blosse Anwendung allgemeiner gesetzlicher Eigentumsbeschränkungen. Ausnahmsweise kann aber ihre Wirkung in einzelnen Fällen derart sein, dass sie als eigentlicher Eingriff in das durch die objektive Rechtsordnung umschriebene Eigentumsrecht anzusehen sind, materiell, wenn auch nicht der Form nach, als Enteignung erscheinen. Das trifft nach der Rechtsprechung  des Bundesgerichtes in der Regel dann zu, wenn dem Eigentümer ein bisher rechtmässig ausgeübter oder wirtschaftlich verwerteter Gebrauch der Sache untersagt wird oder wenn das Verbot die Benützung der Sache in ausserordentlich hohem und empfindlichem Masse einschränkt und dabei ausnahmsweise ein einziger oder nur einzelne wenige Eigentümer so getroffen werden, dass diese ein allzu grosses Opfer zu Gunsten des Gemeinwesens bringen müssten, sofern sie keine Entschädigung erhielten (vgl. BGE 31 II S. 558; 36 II S. 314; 44 I S. 171 Erw.4; 47 II S. 81; 48 I S. 601; 49 I S. 584; 55 I S. 401, 403 ff….“

Von einem Sonderopfer kann mithin nicht die Rede sein, wenn von einer Massnahme und dem daraus resultierenden Schaden relativ viele Personen betroffen sind oder gar die ganze Bevölkerung. Das kann zwar hart sein, ist aber nicht ungerecht. Müssen hingegen nur wenige zu Gunsten des Gemeinwesens ein Opfer bringen, wäre es ungerecht, sie mit dem Schaden alleine zu lassen. Der Sonderopfer-Theorie liegen Gerechtigkeitsüberlegungen zugrunde.

Kumulative Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs nach der Sonderopfer-Theorie sind demnach: (1) Untersagung des wirtschaftlich verwerteten Gebrauchs der Sache; (2) Betroffenheit nur weniger Eigentümer; (3) Erbringung eines zu grossen (entschädigungslosen) Opfers zu Gunsten des Gemeinwesens. (4) Die Sonderopfer-Theorie wurde im Zusammenhang von enteignungsähnlichen Massnahmen entwickelt, die in aller Regel dauerhaft sind (z.B. Bauverbot). Auffallend an den Voraussetzungen 2 und 3 sind sodann die unbestimmten Rechtsbegriffe „nur einzelne wenige“ und „ein zu grosses Opfer“. Sie sind im Anwendungsfall zu konkretisieren und bedeuten Ermessensspielräume.

Nehmen wir als Beispiel Gastwirte oder Coiffeure, die auf behördliche Anordnung hin ihren Betrieb schliessen müssen. Die 1. Voraussetzung (Untersagung) ist gegeben. Von der 4. Voraussetzung (Dauerhaftigkeit) wird man absehen müssen, kann doch eine über einen längeren Zeitraum dauernde Betriebsschliessung ruinös sein und die Betroffenen ungleich stärker treffen als etwa der Verlust der Bebaubarkeit einer Parzelle. Die 2. Voraussetzung („nur einzelne wenige“) ist im hier interessierenden Kontext nicht wörtlich zu nehmen. Es geht dabei um das Verhältnis der Anzahl Betroffener zur Anzahl Nicht-Betroffener: Je kleiner der Zähler des Quotienten ist, desto eher dürfte diese Voraussetzung gegeben sein. Werden beispielsweise von einem Bauverbot von den 500 Grundeigentümern einer Gemeinde nur deren 5 betroffen, ist man geneigt zu sagen, es seien „nur einzelne wenige.” Das entspricht dem Quotienten 1:100. Setzt man die Zahl der von förmlichen Betriebsschliessungen betroffenen Personen, die bei laufenden Ausgaben (z.B. Mietzins,  Lohnfortzahlung) ohne Einkommen sind, in Relation zu den Personen, deren Erwerbstätigkeit nicht eingeschränkt ist bzw. deren Einkommen mehr oder weniger ungeschmälert bleibt bzw. versichert ist, könnte die erforderliche Relation gegeben sein. Schliesslich muss es sich nach der 3. Voraussetzung um ein «zu grosses Opfer zugunsten des Gemeinwesens» handeln. Unbestreitbar wird das Opfer zu Gunsten des Gemeinwesens erbracht. Eine andere Frage ist, ob das Opfer, bleibt es entschädigungslos, „zu gross“ ist – man könnte auch sagen: unzumutbar ist. Das wiederum ist eine Frage des Ermessens. Dabei dürfte die Dauer des Verbots entscheidend ins Gewicht fallen.  Je länger es dauert, desto eher dürfte von einem zu grossen, unzumutbaren Opfer die Rede sein, bliebe es entschädigungslos.

Die sinngemässe Heranziehung der im Enteignungsrecht entwickelten Sonderopfer-Theorie kann Anhaltspunkte zur Bewältigung der anstehenden Probleme liefern.

 

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