Wie weiter nach dem Scheitern der Revision des Bunsdesgerichtsgesetzes? Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, warnt vor einer erneuten einseitigen Fokussierung auf das Bundesgericht und auf dessen Entlastung.

Auszug:

“(…) Die Funktion eines mehrstufigen Instanzenzuges besteht nicht einfach darin, dass die nächsthöhere Instanz nochmals das Gleiche tut bzw. prüft wie die untere; die «oberen» Richter sind denn auch nicht notwendigerweise klüger als die «unteren». Vielmehr kommt dem Instanzenzug eine Art Filterfunktion zu: Die unteren Rechtsmittelinstanzen haben den zumeist unklaren oder umstrittenen Sachverhalt zu klären, gegebenenfalls unter Umständen zahlreiche Rechtsfragen zu eruieren und zu beurteilen und im Idealfall auch die Ermessensausübung der Behörden zu überprüfen.

Je höher im Instanzenzug, desto stärker konzentriert sich die Rechtsmittelinstanz auf die Beurteilung rechtlicher Fragen; Sachverhalts- und Ermessensfragen werden zunehmend «ausgesiebt». Vor dem Bundesgericht ist dann vielleicht noch in zwei zentralen Punkten strittig, ob Bundesrecht richtig angewendet wurde. Dem Bundesgericht kommt weniger die Funktion zu, Einzelfälle zu entscheiden; dafür braucht es nicht notwendigerweise drei oder gar vier Rechtsmittelinstanzen. Vielmehr ist es in erster Linie seine Aufgabe, über die richtige und einheitliche Anwendung des Bundesrechts zu wachen und dieses durch Leiturteile fortzuentwickeln.

Bei einem Neuanlauf für eine BGG-Revision wäre zunächst eine Reihe grundlegender Fragen zu diskutieren und zu klären, was im Rahmen der nunmehr gescheiterten Revision versäumt wurde: Welches ist die Funktion des Bundesgerichts in unserem föderalistischen Staatsaufbau und unserem mehrstufigen Rechtsschutzsystem? Hat sich diese Funktion mit der Implementierung der Rechtsweggarantie – d. h. mit der durchgängigen Schaffung gerichtlicher Vorinstanzen (Bundesverwaltungsgericht, Bundesstrafgericht, Bundespatentgericht, obere kantonale Gerichte) – verändert? Bestehen allenfalls Rechtsschutzdefizite, die auf unterinstanzlicher Ebene behoben werden sollten, namentlich in den Kantonen? Kann bzw. soll ein allfälliger Abbau des Rechtsschutzes auf der Ebene Bundesgericht durch einen Ausbau auf unterinstanzlicher Ebene kompensiert werden? Und so weiter. (…)”

Link zum Artikel, erschienen in der NZZ am 25.6.2020.

 

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