Die Taliban übernehmen in immer grösseren Teilen Afghanistans die Macht. Regionen, in denen sie noch nicht herrschen, werden sie angreifen und erobern. Illusionslos sehen dies Regierungen, deren Truppen an der gescheiterten Militärintervention beteiligt waren.

Diese Erwartung veranlasst die deutsche Regierung, Afghanen und Afghaninnen, die ihnen zum Beispiel Übersetzungsdienste geleistet haben, in Deutschland aufzunehmen, da sie von den Taliban als Kollaborateure misshandelt und getötet würden.

Bekannt ist auch, dass die Taliban Frauenrechtlerinnen und AktivistInnen der Zivilgesellschaft auf Todeslisten aufgenommen haben.*

Das Staatssekretariat für Migration hat erklärt, Geflohene aus Afghanistan nach Einzelfallprüfung nach Afghanistan zurückzuschaffen. Eine realistische Beurteilung ergibt jedoch, dass die Zeit der Einzelfallprüfung vorbei ist.

Wer jetzt zurückgeschafft wird, muss erwarten, dass die Taliban die Region, in der er oder sie ankommt, demnächst mit Krieg und Terror überziehen und über kurz oder lang erobern werden. Dass jemand das Land verlassen hatte und dann zurückgeschafft wurde, kann durch die Taliban durchaus zum Anlass für Verfolgung genommen werden. Und wenn es den Zurückgeschafften, da sie die westliche Lebensweise kennen und schätzen lernten, schwer fällt, sich so zu verhalten, wie es die Taliban verlangen, werden sie harte Strafen zu gewärtigen haben.

Die westlichen Staaten – und mit ihnen die Schweiz – müssen sich auch darauf vorbereiten, dass individuell Verfolgte, insbesondere auch Frauen, aus Afghanistan fliehen müssen. Die Vorbereitung ihrer Fluchtwege und ihrer Aufnahme ist ein humanitäres Gebot erster Ordnung.

*  Aus einem Bericht der “Süddeutschen Zeitung”, erschienen am 21.6.2021 unter dem Titel “Ein deutsches Versagen”:

“(…) Die Afghanen, die für die Bundeswehr Gespräche mit Dorfbewohnern übersetzt, die kulturelle Besonderheiten erklärt und die Truppe vor Gefahren gewarnt haben – sie schauen mit Todesangst auf den Abzug der ausländischen Truppen aus ihrem Land. Schließlich haben die sogenannten Ortskräfte aus Sicht der Taliban mit dem Feind kollaboriert. Sie könnten jetzt auf den Todeslisten der Islamisten landen, auf denen bereits Frauenrechtlerinnen und Aktivsten der Zivilgesellschaft stehen.

Unmittelbar vor dem Abzug aus Afghanistan will Deutschland deutlich mehr dieser Ortskräfte aufnehmen als zunächst angekündigt. Der Schritt, den die Innenminister von Bund und Ländern beschlossen haben, ist mehr als eine Geste, die Anstand und Humanität gebieten. Sie ist auch das politische Eingeständnis, in diesem Krieg an den eigenen Zielen gescheitert zu sein. Nach dem Abzug der westlichen Truppen, der spätestens bis zum 11. September, aber wahrscheinlich schon im Juli, vollzogen sein wird, kehren die Taliban an die Macht zurück. Ob sie in die bestehende Regierung in Kabul eingebunden werden, ist noch unklar. Es ist auch möglich, dass sie warten, bis die Bundeswehr und vor allem die Amerikaner abgezogen sind, um dann den Griff nach der ganzen Macht zu wagen. (…)”

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