„Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit“: Für diese Studie von eindrücklicher Breite und Tiefe erhielt Stefan Schürer den Dissertationenpreis 2009 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Die Dissertation wurde durch Professor Giovanni Biaggini betreut und erscheint im Chronos-Verlag, auf dessen Website sie wie folgt vorgestellt wird:

„Geschichte wird zusehends Sache des Staates – auch in der Schweiz. In Gerichten und Parlamenten wird die Geschichte umgeschrieben und vergangenes Unrecht korrigiert. Der Staat brandmarkt als ungerecht, was einst rechtmässig gewesen ist, und schwingt sich so zum Historiker in eigener Sache auf.
Eine breite Palette von Massnahmen legt Zeugnis für diese Entwicklung ab: die Entschädigung des Bundes zugunsten der Opfer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse»; die späte Urteilsrevision im Fall Paul Grüninger; der vor Bundesgericht geführte Prozess Joseph Springs, der 1942 von Schweizer Grenzwächtern den NS-Behörden übergeben worden war; die Rehabilitierung der Fluchthelfer mittels Bundesgesetz; die staatliche Wahrheitssuche durch die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK); der strafrechtliche Schutz bestimmter historischer Deutungen.
Den Opfern von einst widerfährt auf diese Weise späte Gerechtigkeit. Doch der Grat zwischen Verwirklichung historischer Gerechtigkeit und Politik mit der Geschichte ist schmal. Er bildet die Kulisse für eine Reihe von Betrachtungen zum Verhältnis von Staat, Recht und Geschichte.
Denn die Aufarbeitung macht den Staat zum Verwalter der historischen Wahrheit und zum Gralshüter der Erinnerung. Sie drängt die Rechtskraft von Urteilen sowie die Verjährung von Taten und Forderungen zurück. Die Grenzen zwischen Recht und Geschichte zerfliessen. Der Richter wird zum Historiker – und der Historiker zum Kronzeugen der staatlichen Organe. Doch das Rechtssystem produziert andere Wahrheiten als die Geschichtswissenschaft.“

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Schürer tritt auf staatlicher Ebene aufgrund seiner Falluntersuchungen für „Wiedergutmachung statt Wahrheit“ ein (S. 419): „Der Historiker wird mit dem Verzicht auf Historikerkommissionen und andere Formen offizieller Wahrheitssuche von seiner Funktion als Wahrsager gegenüber der Vergangenheit und Seelsorger für die Zukunft entlastet und auf die Rolle des Wissenschaftlers und Experten zurechtgestutzt. Von ihm wird nicht mehr die Wahrheit über die Vergangenheit erwartet, sondern das Zubereiten des Materials zuhanden der entscheidbefugten Instanz. Er ebnet so mit seiner Analyse den Boden für eine Wiedergutmachung. Die Behörden werden mehrere Historiker anfragen und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Die Monopolstellung, wie sie etwa einer Historikerkommission zukommt, wird auf diese Weise gebrochen“ (S. 421). „Eine verfassungsmässige Theorie historischer Gerechtigkeit beinhaltet daher das Gebot einer staatlichen Nicht-Identifikation mit der historischen Wahrheit. Der Staat ist in ihr nicht Richter über die Vergangenheit, Verwalter der historischen Wahrheit oder Wächter der Erinnerung, sondern steht im Dienste der Gerechtigkeit. Im Umgang mit der Vergangenheit bedeutet Gerechtigkeit, wie sie hier vorgeschlagen wird, späte Wiedergutmachung. Und sie meint die Freiheit von staatlicher Wahrheit. Die vorliegend zur Debatte gestellte Theorie historischer Gerechtigkeit schützt so die Freiheit des Einzelnen wie auch den Prozess der Wahrheitssuche. Denn wo die Freiheit zugunsten der Wahrheit eingeschränkt wird, besteht die Gefahr, dass am Ende beide verkürzt werden“ (S. 423f.).

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