Die Diskussion über Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zeigt fundamentale offene Fragen auf. Gut, dass sie geführt wird!

“Menschenrecht auf Sozialhilfebetrug!” empört sich ein Weltwoche-Redaktor. Weshalb? Weil “Strassburg” urteilte, Observation von Leuten, die des Sozialhilfe- oder Invalidenversicherungsbetrugs verdächtigt werden, sei nur auf einer gesetzlichen Grundlage zulässig.

“Kein Menschenrecht auf Sex”, moniert ein Kolumnist der “NZZ am Sonntag” am 13.8.17. Weshalb? Weil “Strassburg” in einem Fall aus Portugal urteilte, es sei eine unerlaubte Diskriminierung, wenn ein Staat einer 50-jährigen Frau eine Therapie, die er jüngeren Frauen ermöglicht, verwehre, weil sie angeblich an sexuellen Beziehungen nicht mehr dasselbe Interesse haben könne (Link zum Urteil).

Weder geht es um Recht auf Sozialhilfebetrug noch um Recht auf Sex. Es geht darum, ob wir einen Staat wollen,

  • der ohne gesetzliche Grundlage massiv in unser Leben eingreifen, uns zum Beispiel ohne unser Wissen filmen und mit den Aufnahmen nach Gutdünken verfahren darf;
  • der Leistungen diskriminierend gewähren darf, aufgrund von unhaltbaren Unterscheidungen.

Von Recht auf Sozialhilfebetrug könnte höchstens gesprochen werden, wenn “Strassburg” dem Gesetzgeber untersagen wollte, in einem Gesetz die Observation verdächtiger Personen zuzulassen und zu regeln. Diejenigen, die sich Sorgen um die Demokratie machen, mögen bedenken, dass das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage ein ausgesprochen demokratisches ist, denn die gesetzgebende Behörde, das Parlament, ist demokratisch gewählt, und in der Schweiz untersteht das Gesetz sogar noch dem Referendum. Gesetzlose Observation missachtet somit sowohl die indirekte als auch die direkte Demokratie.

Von Recht auf Sex könnte geschrieben werden, wenn Leistungen verlangt würden, die der betreffende Staat bisher überhaupt nicht gewährte. Geht es um Leistungen, die er gewährt, aber von denen er einen Teil der Betroffenen ausschliessen will, geht es um die Prüfung der Unterscheidungskriterien. Dann geht es darum, ob wir den diskriminierenden Staat wollen.

 

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