Von Christoph Wehrli*

Die Diskussion über die Selbstbestimmungsinitiative ist letztlich nicht auf einer technischen, sondern auf der politischen Ebene zu führen – auch wenn zu Recht auf juristische Mängel hingewiesen wird. Im Zentrum stehen der überstaatliche Menschenrechtsschutz und die Vertragstreue, zumal wenn diese nicht nur heisst, einen Vertrag nicht zu brechen, sondern auch, ihn nicht ohne Weiteres zu kündigen. Im Hintergrund geht es auch um das allgemeine Bild des Verhältnisses von Landesrecht und Völkerrecht.

  1. Die SBI behandelt das Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht konfliktorientiert. Zu Widersprüchen kommt es aus dieser Sicht oft und gewissermassen von selbst. In der Regel lassen sich aber solche Probleme vermeiden, indem bei der Gesetzgebung auf das geltende internationale Recht und beim Eingehen neuer völkerrechtlicher Verpflichtungen auf das nationale Recht geachtet wird. Konflikte sind in den letzten Jahren indessen erzeugt worden durch Volksinitiativen, von denen die SVP einen grossen Teil lanciert oder unterstützt hatte. Solche Initiativen dürften indirekt legitimiert werden, wenn eine Regel zur Beseitigung von Konflikten in der Verfassung steht.
  2. Die SBI fordert bei Widersprüchen zwischen Völker- und Landesrecht eine Bereinigung im Sinn eines Entweder-Oder zugunsten der Bundesverfassung. Das bisherige Vorgehen ist demgegenüber pragmatisch-lösungsorientiert, indem man durch Nutzung der Auslegungsspielräume, notfalls durch Kompromisse, Resultate ohne Totalschäden zu erreichen sucht.
  3. Die SBI verspricht eine Klarheit, die sie in vielen Fällen nicht bieten kann. So lässt sie offen, ob ein völkerrechtlicher Vertrag auch bei einem punktuellen «Widerspruch» mit dem Verfassungsrecht gekündigt werden müsste oder nur dann, wenn er im Kern und umfassend betroffen ist. Urheber eines Volksbegehrens könnten sich weiterhin darum drücken, im Voraus Transparenz zu schaffen. Die Unklarheit wäre eine Quelle von Streit, und dieser würde mehr dogmatisch als in nüchterner Abwägung der Interessen geführt.
  4. Die SBI ist Ausdruck einer Haltung, in der das schweizerische Recht absolut gesetzt und das Völkerrecht eher geringgeschätzt wird. In souveränistischer Sicht wird das Volk nicht nur innerstaatlich zu einer obersten Gewalt, der alle Freiheit zukommt, ohne dass auch Verantwortung ein Thema wäre, sondern es nimmt mit seiner teilweise direktdemokratischen Rechtsetzung auch im internationalen Kontext eine Sonderstellung ein; völkerrechtliche Massstäbe sind eher unnötig, wenn nicht dubios. Die Überheblichkeit kann in Richtung des – selbst für die USA zweifelhaften – Mottos gehen: Der Starke ist am mächtigsten allein. Ein konkretes Beispiel: Als in der Frage der zwischenstaatlichen Hilfe bei Steuerhinterziehung der Rest der Welt anders dachte als die Schweiz, wurde dies gern als Zeichen eigener moralischer Überlegenheit gedeutet. Polemisch mag man auch an das Diktum aus der DDR angesichts der Perestroika erinnern: Wechselt der Nachbar die Tapete, so ist dies kein Grund, das Gleiche zu tun.

Natürlich enthält das Völkerrecht viel, worüber nicht nur in Kreis von Diplomaten und Experten zu diskutieren wäre, und da sich viele Staaten nicht im Entferntesten um die Einhaltung scheren, kommt es einem oft verlogen vor. Dennoch ist es letztlich ein Instrument des Friedens und auch eine Quelle von Orientierung. Die Schweiz selber gäbe es übrigens kaum ohne einen völkerrechtlichen Akt. Als die Eidgenossen 1815 vielfach zerstritten waren, uneinig, ob sie vorwärts oder rückwärts gehen sollten, drangen die grossen Mächte auf den Abschluss des Bundesvertrags, legten das neue Territorium fest und garantierten dessen Unverletzlichkeit.

 

*Dr. phil. Christoph Wehrli war 1979 bis 2014 Inlandredaktor der Neuen Zürcher Zeitung. Er ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik / Association suisse de politique étrangère

Print Friendly, PDF & Email