Von Giusep Nay, alt Bundesgerichtspräsident.

Wann respektiert die Bundesversammlung die Gewaltentrennung besser und schützt sie den Volkswillen wirklich und wann stoppt sie den rechtlichen Widersinn mit dem geforderten Vorrang von Landesrecht vor Völkerrecht ?  

Die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission (SPK) des Nationalrates will die von Volk und Ständen angenommene Ausschaffungsinitiative strikt nach ihrem Wortlaut und ohne Berücksichtigung des Verhältnismässigkeitsprinzips und der Menschenrechte umsetzen. In politischen Vorstössen wird verlangt, Landesrecht den Vorrang vor Völkerrecht einzuräumen. Das bringt den Rechtsstaat und seinen guten Ruf in akute Gefahr.

Gewaltentrennung

Es ist ein unbehelfliches, aber den Rechtsstaat beschädigendes Unterfangen der Mehrheit der SPK des Nationalrates, die Ausschaffungsinitiative ohne Rücksicht auf die durch die Schweiz übernommenen menschenrechtlichen Verpflichtungen umsetzen zu wollen. Entsprechenden bundesgesetzlichen Bestimmungen müsste das Bundesgericht nach dem geltenden Recht die Anwendung versagen. Für das Bundesgericht ist im Anwendungsfall gemäss unserer Bundesverfassung das Völkerrecht, d.h.  sind die Menschenrechten massgebend und können nicht umgangen werden. Würde es das tun, setzte spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg diese durch. Das Bundesgericht müsste dann sein Urteil, wie  das Bundesgerichtsgesetz dies ausdrücklich vorschreibt, gestützt auf den Entscheid des EGMR revidieren. Damit ist – entgegen einer verbreiteten Auffassung – der Vorrang des Völkerrechts gesetzlich vorgeschrieben, wenn es um die in der Schweiz seit 1974 geltende Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geht.

In der Rechtsanwendung hat und muss die Justiz im gewaltenteiligen Rechtsstaat das letzte Wort haben. Der Respekt vor dem hoch zu halten Grundsatz der Gewaltentrennung und die Pflicht, die Unabhängigkeit der Gerichte zu wahren, verbietet es der Bundesversammlung, Bundesgesetze zu erlassen, von denen sie weiss, dass sie keine Anwendung finden können. Der Entscheid der Mehrheit der SPK, die Ausschaffungsinitiative ohne Rücksicht auf Menschenrechtsverletzungen umzusetzen, schadet daher dem Ruf der Schweiz als unverbrüchlicher Rechtstaat, will die Bundesversammlung nur schon in die Lage versetzt werden, einen solchen Konflikt mit dem Bundesgericht heraufzubeschwören.

Der Grundsatz des Vorrangs des Völkerrechts, wenn es gilt, die Menschenrechte zu schützen und zu wahren, ist seit seinem sog. PKK-Entscheid aus dem Jahre 1999 unveränderte Praxis des Bundesgerichts. Diese wurde in einem Entscheid von 2012 im Zusammenhang mit der Ausschaffungsinitiative bekräftigt und davon kann keine seiner Abteilungen ohne einen Entscheid des Plenums, d.h. aller vereinigten Abteilungen des Bundesgerichts abweichen. Meinungsverschiedenheiten ergeben sich unter den Bundesrichterinnen und Bundesrichtern allein in Bezug auf den Spielraum, den die EMRK und andere Menschenrechtsabkommen dem nationalen Gesetzgeber belassen, und das ist gut so. Denn die Grund- und Menschenrechte werden letztlich entwertet, wenn sie dort, wo Güterabwägungen notwendig sind, nicht genügend Spielraum belassen. Dafür setzt sich das Bundesgericht zu Recht ein.

Politische Rechte

Die Garantie der politischen Rechte der Bundesverfassung schützt vorab die unverfälschte Stimmabgabe, mi anderen Worten den Volkswillen. Kann eine Volksinitiative zur Teilerevision der Bundesverfassung nicht umgesetzt werden, insbesondere weil sie Grund- und Menschenrechte verletzt, darf sie nicht der Volksabstimmung unterbreitet werden. Denn der Wille, die die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit deren Annahme ausdrückten, kann bei Verletzung einer durch die Schweiz übernommene Menschenrechtsverpflichtung nicht verwirklicht werden. Die Stimmenden beklagen dann aber ganz zu Recht eine Missachtung ihres Willen. Deshalb schreibt Art. 139 Abs. 3 der Bundesverfassung vor, Volksinitiativen, die gegen „zwingendes Völkerrecht“ verstossen, ungültig zu erklären.

Bundesrat und Bundesversammlung erklärten bei der Verabschiedung dieser Bestimmung zuhanden von Volk und Ständen ausdrücklich, der Begriff des zwingenden Völkerrechts sei nicht im engen völkerrechtlichen Sinn, sondern in einem weiter gehenden eigenständigen staatsrechtlichen Sinn zu verstehen, der die Wahrung des Grundbestandes an Grund- und Menschenrechten und unseres direktdemokratischen Rechtsstaates garantiere. Nur ein Staat mit gleichen Rechten für alle ist ein demokratischer Rechtsstaat, weil Menschen nicht anderen Menschen die Grund- und Menschenrechte, die sie für sich beanspruchen, vorenthalten können. Würden sich der Bundesrat und die Bundesversammlung an die Erklärung zum Begriff des „zwingenden Völkerrechts“ halten, die sie bei der Regelung dieses Ungültigkeitsgrundes bei Volksinitiativen auf eine Teilrevision der Bundesverfassung abgaben, wäre nicht nur die Ausschaffungsinitiative ungültig erklärt worden, weil sie – wie sich längstens gezeigt hat – nicht so, wie sie lautet, umgesetzt werden kann. Auch die Durchsetzungsinitiative würde ungültig erklärt werden, anstatt zu versuchen, ihr mit nicht anwendbaren Gesetzesbestimmungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nur dadurch wird der Wille von Volk und Ständen nicht verfälscht und werden die politischen Rechte wirklich geschützt.

Verhältnis Völkerrecht / Landesrecht

Völkerrecht ist vornehmlich Vertragsrecht, bei dem jeder Staat selber souverän entscheidet, welche Verträge er eingehen will und welche nicht. Wer Verträge eingeht – jeder Einzelne weiss das – bindet sich in welcher Weise auch immer an einen Vertragspartner. Verträge sind unter Privaten wie unter Staaten zu halten. Entstehen Streitigkeiten darüber, wie weit sich die Vertragspartner gebunden haben und ob eine Partei den Vertrag nicht einhalte, ist es unabdingbar, dass nicht die eine Seite allein nach dem eigenen Landesrecht darüber entscheiden kann und auch nicht allein seinen eigenen Richter bestimmen kann, der darüber entscheidet.

Das bei völkerrechtlichen Verträgen massgebliche Recht kann selbstredend nur das Völkerrecht sein. Dieses Völkerrecht muss auch notgedrungen dem Landesrecht vorgehen, ansonsten wäre es kein solches und könnte ein Vertragspartner allein über Vertragsstreitigkeiten befinden und sich einseitig über vertragliche Verpflichtungen hinwegsetzen. Beim Völkerrecht handelt es sich schliesslich um Recht, das die Schweiz selber mit jedem völkerrechtlichen Vertrag auch für sich setzt und dem sie sich selber unterwirft. Und die Richter, die dieses Völkerrecht anzuwenden haben, sind die, die Vertragsparteien gemeinsam in ihrem Vertrag dafür einsetzen, so dass es dann auch Richter sind, die die Schweiz selber gewählt hat.

Ohne Beachtung dieser grundlegenden Regeln des Völkerrechts und jeden Vertragsschlusses wird niemand mit der Schweiz die Verträge abschliessen, die unabdingbar sind, damit wir im unaufhaltsamen globalen wirtschaftlichen Integrationsprozess nicht uns selber ins Abseits stellen. Deshalb gilt es, den Widersinn mit fremdem Völkerrecht und fremden Richtern ohne Verzug zu stoppen.

18.10.2013

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