Das Volk ist keine handelnde Person. Und in der Demokratie gibt es keine unbegrenzte Allmacht.

Markus Notter in seiner Gastkolumne in der “NZZ am Sonntag” vom 27. Oktober 2013 (S. 18, Auszug):

“Nach jedem Abstimmungswochenende ist er wieder da: der Souverän. Kein Kommentator lässt ihn sich nehmen, egal ob im Boulevard- oder im seriösen Nachrichtenblatt, im Lokalfernsehen oder im Internet. Der Souverän hat entschieden. Er war gnädig oder verstimmt, hat eindeutige Direktiven erteilt oder war sich auch nicht ganz sicher und hat deshalb einen Zufallsentscheid gefällt. (…)

Mir geht dieses Bild vom Souverän schon lange auf die Nerven. Es suggeriert eine allmächtige Person. Das ist in zweifacher Hinsicht falsch. Das Volk ist einerseits keine handelnde Person. Eine Volksabstimmung ist ein durch rechtliche Regeln geordneter Entscheidungsvorgang. Und zum Zweiten gibt es in der Demokratie keine unbegrenzte Allmacht. Sie gehört in die mittelalterliche Welt der Höfe und Monarchien oder in den Bereich der Theologie. Grundlage und Schranke allen staatlichen Handelns ist das Recht. So steht es in der Verfassung. Auch das staatliche Handeln des Volkes ist daran gebunden.

(…)

Der Begriff des Souveräns (…) führt auf eine falsche Fährte. Eben weil er sich historisch von einem absoluten Herrschaftsträger herleitet. Demokratie setzt aber Begrenzung der Macht voraus, zum Beispiel durch die Grundrechte der Einzelnen oder durch die Prinzipien des Rechtsstaates, etwa das Verhältnismässigkeitsprinzip. Das kann man auch durch einen Volksentscheid nicht aufheben, ohne dass man dadurch den demokratischen Charakter des Staates verletzt.

Demokratie ist auch ein Bildungsprojekt. Dessen war man sich in den Anfängen der demokratischen Bewegung noch stark bewusst. Heute gilt das wahrscheinlich auch als nicht mehr zeitgemäss. Wenn wir aber mindestens viermal im Jahr gebetsmühlenhaft den Souverän bemühen, suggerieren wir eine Allmacht des Volkes, die es so in der Demokratie nicht geben kann. Der Einwand, man müsse halt den Souverän nur richtig definieren. sticht dabei nicht. Umgangssprachlich versteht man darunter eben gerade einen schrankenlosen Herrschaftsträger. Das Bild vom sogenannten gnädigen Souverän zeigt das deutlich. Gnade ist der freiwillige oder willkürliche Akt einer allmächtigen Person. Wir sollten mit diesem schiefen und undemokratischen Bild aufhören. Es lässt sich nicht wegdefiniteren: Der Souverän hat in einer Demokratie nichts verloren.”

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