Im Abstimmungskampf um die Durchsetzungsinitiative (DSI) argumentierten deren Gegnerinnen und Gegner, die Ausführungsgesetzgebung, die das Parlament erlassen habe, setze die Ausschaffungsinitiative sehr streng um. Die DSI sei unnötig. Die SVP entgegnete erfolglos, nur mit der DSI könne die Härtefallklausel verhindert werden.

Am 1. Oktober 2016 tritt nun das gemäss Ausschaffungsinitiatve revidierte Recht samt seiner  Härtefallklausel in Kraft. Es ist absehbar, dass Bundesgericht und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Folge wegleitende Urteile fällen werden. im Vor- und Umfeld der parlamentarischen Beratung und dann der Volksabstimmung über die “Selbstbestimmungsinitiative” deer SVP können diese Urteile neue Nahrung für politische Kontroversen geben.

Die folgenden Auszüge aus Fanny de Weck’s* Artikel über die neuen Landesverweisungsnormen in der 4. Auflage (2015) des Migrationsrechtskommentars Spescha u.A., S. 715 ff zeigen beispielhaft, worum es bei den kommenden Urteilen gehen kann:

Zu Art. 66a nStGB:

“(…) Wie das Bundesgericht in BGE 139 I 16 unter Hinweis auf Art. 5 Abs. 4 BV und Art 27 VRK (Wiener Abkommen über das Recht der Verträge, Red.)  festgehalten hat, kann sich die Schweiz nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Eine dem Völkerrecht entgegen stehende Bundesgesetzgebung bleibt damit regelmässig unanwendbar. Die Lex posterior-Regel kommt nicht zur Anwendung. Dies gilt nicht nur für Menschenrechtsübereinkommen, sondern auch für das FZA (Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU, Red.) und EFTA-Übereinkommen. Der Normkonflikt zwischen Art. 66a nStGB und FZA und EFTA-Übereinkommen wird folgerichtig zugunsten des Vorrangs der internationalen Übereinkommen gelöst werden müssen. Das FZA stellt für die Zulässigkeit einer Einschränkung der Freizügigkeitsrechte wesentlich auf die Rückfallwahrscheinlichkeit ab. EU-Bürger und deren Angehörige können entsprechend nur nach Massgabe der freizügigkeitsrechtlichen Voraussetzung des Landes verwiesen werden, wenn von ihnen eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ausgeht (…). Bei einer Vielzahl der in Art. 66a n StGB enthaltenen Delikte wird sich eine solche Folgerung nicht begründen lassen bzw. wird eine Interessenabwägung und Rückfallprognose unabdingbar bleiben, um die Zulässigkeit einer Einschränkung des Freizügigkeitsrechts beurteilen zu können. (…) Den Normenkonflikt zwischen Art. 66a nStGB und FZA zugunsten des jüngeren landesrechtlichen Gesetzes lösen zu wollen, stünde im Widerspruch zu BGE 139 I 16 E. 5.1 (auch wenn die Praxis noch nicht so gefestigt ist wie im Kontext von Menschenrechtsübereinkommen) und käme einem institutionalisierten Vertragsbruch gleich, zu dem ein Rechtsstaat nicht Hand bieten kann und der die bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union ungebührlich belastet. (…)” S. 726 Rz. 29

Auch die individuelle Ausgestaltung einer Massnahme und damit die Dauer einer Landesverweisung muss im Sinn der Bundesverfassung und von Art. 8 Abs. 2 EMRK sowie FZA verhältnismässig sein (…). (…) Mit der Mindestdauer der Landesverweisung von fünf Jahren ist der Handlungsspielraum des Strafgerichts allerdings so eingeschränkt, dass in Fällen, bei denen einzig eine Landesverweisung von unter fünf Jahren einer Verhältnismässigkeitsprüfung standhalten würde, gestützt auf Art. 8 EMRK auf eine strafrechtliche Landesverweisung verzichtet werden muss (…).” S. 727 Rz.30

“Eine nachträgliche Aufhebung der Landesverweisung sieht der Gesetzestext nicht vor. Es ist unter BV, EMRK und FZA problematisch, dass die Landesverweisung mit der Zuständigkeit des Strafrichters zu einem Zeitpunkt beschlossen wird, der zeitlich in zahlreichen Fällen so weit vom Wegweisungsvollzug entfernt ist, dass er aufgrund veränderter persönlicher oder familiärer Verhältnisse im Vollzugszeitpunkt unverhältnismässig werden, bzw. einen Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 nStGB darstellen kann. (…) Sofern Ansprüche aus Art. 13 BV, Art. 8 EMRK oder FZA nicht im Rahmen einer Einzelfallprüfung abgewogen werden, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass das Bundesgericht oder der EGMR eine Veerletuzung der national und/oder international verankerten Grundrechte feststellt. Bereits der Verzicht auf eine Einzalfallprüfung kann dabei eine Verletzung von Art. 29a BV und von Art. 13 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK darstellen. (…)”  S. 727 Rz 31.

Zu Art. 66d Abs. 1 nStGB:

“(…) Wie in der Vernehmlassung moniert, schafft der Bundesgesetzgeber mit dem Ausschluss der vorläufigen Aufnahme für Personen, die unter Art. 66d nStGB nicht ausgeschafft werden könne oder dürfen, “Sans-Papiers” (Vernehmlassungsbericht BJ, 22f. s.insb. UNHCR- Stellungnahme, 15f.). Er kreiert damit Voraussetzungen für grundrechtswidrige Situationen – und dies gar ogne Verfassungsauftrag: Bei der vorläufigen Aufnahme handelt es sich um eine Ersatzmassnahme und keinen Rechtsanspruch (vgl. BGE 137 II 305 E. 3.1). (…) Wie zudem selbst die Botschaft vermerkt, ergibt sich unter Umständen (auch für Personen ohne Flüchtlingseigenschaft) ein Anspruch auf Regelung des Aufenthalts aus Art. 8 EMRK (13.056-Botschaft, 6047). (…)” S. 733, Rz.8

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In den abschliessenden Bemerkungen schreibt die Verfasserin:

“Das Instrument der Landesverweisung wird wohl zu komplexen Verfahren führen, die für die Betroffenen äusserst belastend und für die Behörden und Gerichte zu einer Herausforderung werden. Insbes. die Strafrichter werden dabei mit Fragestellungen konfrontiert, die ihnen bisher wenig vertraut sind, bei denen die grundrechtskonforme Anwendung im Einzelfall jedoch in ihren Händen liegt. (…)” S. 735 Rz. 12

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*Dr. Fanny de Weck ist Mitglied des Vorstands des Vereins “Unser Recht”.

 

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