Auszüge aus Stellungnahmen von Andreas Kley, René Rhinow und Alain Griffel zur Einheit der Materie, ausgelöst durch die AHV-Steuervorlage:

Andreas Kley: 

“(…) Die abstrakte Einheit der Materie sollte bei Volksabstimmungen im Urnenabstimmungsverfahren generell aufgegeben werden, da sie sich nicht als konditionale Norm umsetzen lässt.

Weder die Bundesverfassung noch das Parlamentsgesetz sehen die Einheit der Materie bei der Bundesgesetzgebung vor. Die Einheit der Materie verwirklicht sich konkret in den Beratungen der beiden versammelten Räte, nicht dagegen in der parlamentarischen Schlussabstimmung über die gesamte Vorlage und in der allfäligen Referendumsabstimmung. Hier ist sie völlig unangebracht, denn sie behindert das Parlament in seiner zentralen Aufgabe, in der Deliberation mithilfe des Antragsrechts zu Details Kompromisse zufinden. Sie ist richtigerweise bislang für Referenden über Bundesgesetze praktisch nicht angewandt worden, vielmehr haben sie einzelne Parlamentarier und politische Akteure angerufen, um die Lösung von Problemen blockieren. Ein aus der Wahl- und Abstimungsfreiheit des Art. 34 Abs. 2 BV herausgelesenes Kompromissverbot ist im Fall von Parlamentsvorlagen nicht rational,sondern nur mit erfundenen juristischen ‘Ableitungen’ zu begründen. Es passt zu einer in Mode gekommenen ‘ volksnahen’ Politik, die demokratischen Institutionen zu blockieren, um dann deren Versagen festzustellen. Das ist der fruchtbare Boden für eine kompromisslose Politik. Die verheerenden Ergenisse kompromissloser Politik in Vergangenheit und Gegenwart sprechen für sich.”

Aus: Andreas Kley: “Die Einheit der Materie bei Bundesgesetzen und der Stein der Weisen”, ZBl 1/2019, S. 3 ff.

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René Rhinow:

“(…) Es gilt hier abzuwägen, ob das angestrebte Ziel (z.B. ein Sparziel) stärker zu gewichten ist als die oder einzelne der unter diesem Titel vorgenomenen Änderungen. Ob beispielsweise eine ‘bemäntelte’, im Mantel eingepackte Änderung von grossem politischem Gewicht erscheint, etwa im Volk stark umstritten ist,sodass ein legitimer Anspruch darauf besteht, einzeln dazu Stellung zu nehmen.  (…)

Andreas Kley hat in verschiedenen Medien seine Auffassung kund getan, das sog. ‘Päckli’ AHV- und Steuerreform sei zulässig und verstosse nicht gegen den Grundsatz der Einheit der Materie. (…) Doch gerade hier stellt sich die Frage,ob eine Verbindung von zwei Materien zu einem ‘Abstimmungspaket’, die je für sich hochpolitisch und im Volk umstritten erscheinen, die freie Stimmabgabe ungebührlich einschränken. Bei Lichte besehen brachte es das Parlament bei beiden Geschäften nicht zustande, je tragbare Kompromisse zu schmieden. Die Verknüpfung zu einer einzigen Abstimungsvorlage ist nicht primär eine ‘Kompromissleistung’, sondern Folge eines mehrfachen ‘Kompromissversagens’. Wo liegen die Grenzen, sachfremde politische Geschäfte in eine Abstimungsvorlage zu kleiden, nur um Mehrheiten im Parlament zu finden? Was alles kann dem Stimmvolk als Sammelvorlage zugemutet werden? Wo endet der Grundsatz ‘Gibst Du mir die Wurst, so lösch ich Dir den Durst’ und beginnt die Verletzung der Abstimmungsfreiheit?”

René Rhinow: “Die Einheit der Materie – ein Kompromisskiller?” ZBl 3/2019, S. 113 f.

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Alain Griffel:

“(…) Klar und gänzlich unbestritten ist,dass es weiterhin zulässig ist, ein ganzes Gesetz zu erlassen wie beispielsweise das Zivilgesetzbuch (ZGB), welches verschiedene Themen in sich vereint (Eherecht, Erbrecht, Vereinsrecht, Eigentum usw). Hier aber geht es um etwas anderes: Hier wurden zwei Materien, die keinerlei Zusammenhang aufweisen, gerade und nur deshalb ins gleiche Gesetz verpackt, um eine separate Abstimmung darüber zu verunmöglichen. Die Verbindung ist also rein abstimmungstaktisch motiviert; man soll nur zu beidem zusammen Ja oder Nein sagen können. Damit ist die rote Linie eindeutig überschritten und die Einheit der Materie verletzt, jedenfalls nach heutigem Rechtsverständnis. (…)

Hinter dem Steuer-AHV-Deal steht jedoch noch eine andere, viel grundlegendere staatspolitische Frage, über die eigenartigerweise nicht gesprochen wird: Welches Niveau an direkter Demokratie können wir uns (noch) leisten? Die Schweiz ist nach der Jahrtausendwende in eine Zustand der Reformunfähigkeit angekommen. Die Reform der Altersvorsorge ist ebenso gescheitert wie die Reform der Unternehmenssteuern. Eine Regierungsreform, welche unsere Staatsleitungsstrukturen vom 19. ins 21. Jahrhundert überführen sollte, dümpelte zwanzig Jahre lang vor sich hin und endete im Nichts. Und unser Verhältnis zu Europa werden wir vermutlich nie klären; das faktisch wohl bereits beerdigte Rahmenabkommen mit der EU lässt grüssen. (…)

Sollte es Schule machen, was das Parlament mit der Steuer-AHV-Vorlage getan hat – ein bewusstes Verunmöglichen einer differenzierten Willenskundgebung durch die Stimmberechtigten -, so wird das bisherige Niveau der direkten Demokratie wieder ein Stück weit abgesenkt. Wohlgemerkt: nicht wegen der Globalisierung, nicht wegen der EU, nicht wegen fremder Richter, sondern unseretwegen. Das ist staatspoitisch nicht wirklich ein Drama, auch wenn es dem geltenden Recht widerspricht; denn das Parlament ist ja das demokratisch gewählte Legislativorgan, in dem es Platz haben muss für politische Kompromisse.

Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass National- und Ständerat das Niveau der direkten Demokratie gerade eben um eine ganze Umdrehung heruntergeschraubt haben – allerdings ohne es zu sagen. Durch dieses So-tun-als-ob-es korrekt-wäre erhielt die Vorlage den Beigeschmack eines Gewurstels, eines unsauberen Hinterzimmerdeals, was in jeder Beziehung ungut ist. Denn es nagt an der verfassungsmässigen Ordnung und schürt in der Bevölkerung berechtigtes Misstrauen, welches sich am Abstimmungstag sogar als Bumerang erweisen könnte. Sprechen wir doch darüber, ob wir unsere direkte Demokratie angesichts der sich häufenden Reformblockaden nachjustieren müssen! Und schaffen wir doch in einem demokratischen Prozess die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen, an die sich dann auch das Parlament wird halten müssen.”

Alain Griffel: “Die nicht gestellte Frage zum Steuer-AHV-Paket.” Erschienen in der “Republik” am 27.2.2019.

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