Der Entscheid sorgte für allerlei Aufsehen: Ende Juli reduzierte das Appellationsgericht Basel-Stadt in einem Vergewaltigungsfall das Strafmass. In der mündlichen Begründung nahm es hierfür auch Bezug auf das Verhalten des Opfers: Man müsse feststellen, dass die Frau «mit dem Feuer gespielt» habe, weil sie Abend der Vergewaltigung zuvor in einem Club mit einem anderen Mann herumgemacht habe. Dabei habe sie «falsche Signale» an Männer ausgesendet, sie hätten mir ihr leichtes Spiel.

Diese Begründung wurde als «Victim Blaming» aufgefasst und löste Protestkundgebungen vor dem Gericht aus. Das Appellationsgericht versuchte, sich mit einer Medienmitteilung zu erklären:

«Bemisst das Gericht die Strafe, so hat es jeweils die konkreten Tatumstände, die konkrete Situation des Täters, seinen konkreten Tatbeitrag und die konkreten Auswirkungen auf das Opfer zu berücksichtigen. Wenn dabei geprüft wird, wie der Beschuldigte die Situation interpretiert hat, geht es lediglich darum, das Verschulden des Täters zu bemessen und nicht darum, das Opfer zu disqualifizieren.»

In einem ausführlichen Interview im Online-Magazin Republik ordnete die ehemalige Staatsanwältin und Oberrichterin, Dr. iur. Marianne Heer, die juristische Debatte ein. Auf die Frage, ob sie das «Spiel mit dem Feuer» ebenfalls als «Victim Blaming» einstufe, antwortete Heer:

«Das ist für sich allein in dieser verkürzten Form sicher eine unglückliche Formulierung, und es war wahrscheinlich fahrlässig von der Richterin, diesen Punkt so herauszuheben. Aber das bedeutet nicht, dass das Urteil an sich falsch ist, weil es wie gesagt diverse Faktoren gibt, die sich strafmildernd auswirken können, und ich davon ausgehe, dass zusätzlich noch ganz andere Gründe zur Strafmilderung geführt haben.»

Das Opferverhalten müsse gemäss Heer berücksichtigt werden, es dürfe aber nicht das einzige Kriterium für die Strafmilderung sein. Im Übrigen sollten laut der ehemaligen Oberrichterin «gesellschaftspolitische Debatten… nicht in einem Gerichtssaal» geführt werden und es müsse die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet werden.

Dr. iur. Anna Coninx ist Assistenzprofessorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Luzern und Vorstandsmitglied von Unser Recht. Sie ordnet für uns die Debatte um das Basler Vergewaltigungsurteil ein und kommentiert insbesondere die Äusserungen von Marianne Heer:

Zu argumentieren, man solle die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, weiche einem berechtigten Vorwurf aus. Es sei sicherlich so, dass die Strafzumessung nur dann sinnvoll kommentiert werden kann, wenn man den genauen Sachverhalt kennt. «Die Argumentation des Gerichts, die Frau hätte mit dem Feuer gespielt, weil sie zuvor mit einem anderen Mann Sex hatte und falsche Signale ausgesendet hat, ist aber meines Erachtens in jedem Fall unhaltbar und dafür braucht man keine schriftliche Begründung abzuwarten», sagt Assistenzprofessorin Coninx. Die Proteste gegen dieses Urteil richten sich nun mal nicht primär gegen das Strafmass. Sie richten sich gegen die Formulierungen in der mündlichen Begründung, die Ausdruck eines antiquierten Verständnisses von Sexualstrafrecht sind und auf eine opferfeindliche Haltung hinweisen.

«Im Strafrecht schauen wir nicht nur, wie der Täter die konkrete Situation interpretiert hat, sondern wir würdigen seine Sichtweise rechtlich. Einem Mann, der meint, eine Frau, die mit einem anderem Mann in einem Club herummacht, müsse nicht mehr gefragt werden, ob sie mit ihm Sex wolle, muss man klar sagen, dass wir diese Haltung nicht akzeptieren. Ich sehe nicht ein, weshalb aus diesem Grund die Strafe tiefer bemessen werden soll.» Wie fragwürdig die Argumentation des Gerichts sei, werde einem bewusst, wenn man einen Vergleich mit dem Vermögensstrafrecht anstellt, sagt Coninx weiter: «Es käme ja auch niemanden in den Sinn zu argumentieren, derjenige, der sein Auto einem Bekannten ausleiht, hätte das falsche Signal gesendet, dass irgend ein anderer sein Auto einfach ohne seine Einwilligung nehmen darf. Es wäre völlig abwegig, dem Eigentümer des Autos eine Mitschuld zu geben und den Autodieb weniger hart zu bestrafen. Genauso wie es völlig abwegig ist, den Vergewaltiger weniger hart zu bestrafen, weil das Opfer zuvor einvernehmlich Sex mit einem anderen Mann gehabt hat.» Das müsste eigentlich bei allen Richterinnen und Richtern angekommen sein. Erschreckend an den Aussagen im Basler Urteil ist, dass sie schonungslos aufzeigen, dass veraltete Denkmuster und überwunden geglaubte Vergewaltigungsmythen noch immer tief verwurzelt sind.

Im Interview mit der Republik äusserst sich Dr. Heer auch über andere mögliche Strafzumessungsgründe. Dr. Coninx kann dieser Argumentation mehr abgewinnen. Die Brutalität und die Dauer des Tatvorgangs sind durchaus legitime Gründe für die Strafzumessung, die sich ja bei der Vergewaltigung zwischen einem und zehn Jahre bewegt. Es sei nun mal so, dass das Unrecht grösser sein kann ist, wenn die Frau, die zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird, zusätzlich körperlich misshandelt wird oder wenn die Tat sehr lange dauert.

Demgegenüber sei die Argumentation des Gerichts, die Frau hätte sich nicht in Therapie begeben, weshalb sie wohl nicht so traumatisiert gewesen sei, erneut sehr fragwürdig.

Am Ende des Interviews wird Heer nach ihren Ideen gefragt, wie die Gewalt gegenüber Frauen eingedämmt werden könne:

«Ich habe lange mit einer Änderung des Sexualstrafrechts geliebäugelt. Da wäre der Fokus auf der sexuellen Selbstbestimmung der Frau. Aber die sexuelle Selbstbestimmung ist nur ein Aspekt, der von Misogynie betroffen ist. Daher glaube ich inzwischen, wir müssen nicht spezifisch das Sexualstrafrecht ändern, sondern vielleicht mehr in die Richtung einer Ausweitung der Rassismusstrafnorm nachdenken oder noch besser eine besondere Strafnorm schaffen, um dem mangelnden Respekt vor der Frau als Geschlecht handfest begegnen zu können.»

Frauenfeindliche Äusserungen zu bestrafen, löse das Problem der sexualisierten Gewalt nicht, ordnet Unser Recht Vorstandsmitglied Anna Coninx ein. Vielmehr müsse die sexuelle Selbstbestimmung eben gerade im Sexualstrafrecht gestärkt werden und das betreffe nun mal den Körper der Frau und nicht nur frauenfeindliche Äusserungen. Coninx hat diese Sichtweise bereits im April in einer Vernehmlassungsantwort von Unser Recht zur laufenden Reform des Sexualstrafrechts eingebracht. Insbesondere begrüsst sie die Einführung des neuen Tatbestand des «sexuellen Übergriffs» (Art. 187a VE-StGB) und damit einen längst überfälligen Paradigmenwechsel im Sexualstrafrecht, den sehr viele Staaten bereits vollzogen haben.

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