Die erstmalige Anwendung der Härtefallklausel durch das Bundesgericht rückt parlamentarische Vorstösse in den Vordergrund, durch welche die Härtefallklausel abgeschafft oder eingeschränkt werden soll.

Wir erinnern uns: Die Härtefallklausel war Hauptstreitpunkt der Volksabstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP. 58,9 % der Stimmenden lehnten die Initiative ab und stellten sich damit hinter die Härtefallklausel.

Wie zu erwarten war, hat nun das erste Urteil, in dem das Bundesgericht die Härtefallklausel anwendet, ein Wiederaufflackern der Auseinandersetzung um diese Bestimmung zur Folge. Das Urteil betrifft einen Secondo. Bedenken gegen die Ausweisung von Secondos hatten stark zur Ablehnung der DSI beigetragen. Die Konkretisierung, die das Bundesgericht nun vornahm, entspricht durchaus den Erwartungen, die die Gegnerinnen und Gegner der DSI in die Härtefallklausel setzten.

SVP-Nationalrat Gregor Rutz reichte bereits eine Parlamentarische Initiative zur Aufhebung der “Täterschutzklausel”, wie er sie nennt, ein. FDP-Ständerat Philipp Müller kündigt für die nächste Session einen Vorstoss an: «Jetzt muss das Parlament restriktive Kriterien für eine Anwendung der Härtefallklausel formulieren», zitiert ihn “Blick“.

Wie hat das Bundesgericht die Härtefallklausel angewandt? Aus dem Bericht der NZZ-Bundesgerichtskorrespondentin Kathrin Alder”: 

“(…) In einem Leiturteil hat das Bundesgericht die Anwendung der Härtefall-Regelung nun konkretisiert. (…)

(Die Härtefallklausel) sollte es den Richtern möglich machen, trotz Automatismus die Verhältnismässigkeit jeder einzelnen Ausschaffung zu prüfen. Der Richter kann also ausnahmsweise auf eine Landesverweisung verzichten, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Die Ausschaffung bewirkt für den betroffenen Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall und das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung überwiegt das private Interesse am Verbleib in der Schweiz nicht. Dabei ist der Situation von Ausländern, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, besonders Rechnung zu tragen.

Was unter einem persönlichen Härtefall genau zu verstehen ist, führt das Gesetz indes nicht aus. Auch nicht, welche Kriterien bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind. Im aktuellen Leitentscheid konkretisieren die Lausanner Richter deshalb diese Kriterien. Sie halten fest, es sei gerechtfertigt, sich für die Anwendung der Härtefallklausel allgemein am Ausländerrecht zu orientieren, konkret an jenen Kriterien, die für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung in einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall gelten. Faktoren wie die Integration, die Respektierung der Rechtsordnung, die Familienverhältnisse, die finanziellen Verhältnisse sowie der Wille zur Teilhabe am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung, die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz, der Gesundheitszustand und die Möglichkeit zur Wiedereingliederung im Herkunftsstaat gilt es dabei zu berücksichtigen. Zusätzlich muss der Strafrichter auch die Aussichten auf soziale Wiedereingliederung des Verurteilten abwägen.

Bei Ausländern, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, können sich die Strafrichter gemäss Bundesgericht zudem auf die Kriterien abstützen, die für den Entzug der Aufenthaltsbewilligung von Ausländern der zweiten Generation entwickelt wurden. Diese sollen ihnen als Leitlinie dienen. Allerdings sei auch festzuhalten, dass die Stimmbevölkerung mit der Annahme der Ausschaffungsinitiative das ausländerrechtliche Ausweisungsregime deutlich verschärfen wollte.

Im konkreten Fall kamen die Lausanner Richter nach einer Abwägung sämtlicher Umstände zu dem Schluss, dass der Spanier die beiden kumulativen Kriterien für die Anwendung der Härtefallklausel erfüllt. Zunächst sei er in der Schweiz geboren und aufgewachsen und verfüge über eine Familie hier. Zu seinen Kindern pflege er eine enge Beziehung. Zwar sei seine berufliche und finanzielle Situation nicht mustergültig, man dürfe sie aber auch nicht marginalisieren. Bei den massgeblichen Raubtaten, wegen derer er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, wirkte er zudem als Mittäter seines Cousins, der jeweils zwei Frauen das Mobiltelefon raubte. Weder habe er die Initiative ergriffen noch selbst Gewalt angewendet. Im Wesentlichen fuhr er das Fluchtauto. Für ihn spreche auch, dass er immer gearbeitet habe und für seinen Lebensunterhalt selbst aufgekommen sei. Eine Ausnahme bilde einzig die kurze Phase nach dem Verlust seiner Stelle im August 2016 bis zu seiner Verhaftung im Februar 2017. Abschliessend bestehen für das Bundesgericht realistische Aussichten darauf, dass sich der Spanier nach der Verbüssung seiner Strafe in der Schweiz eingliedert.”

 

 

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