Von Dr. iur. Dominik Elser, Geschäftsleiter des Vereins Unser Recht

Am Montag 25. April 2022 postulierte der Mitte-Parteipräsident Gerhard Pfister (Nationalrat ZG) auf Twitter:

Die angerufene Verfassungsbestimmung Art. 184 Abs. 3 BV gibt dem Bundesrat die Kompetenz, sogenannte Interessenwahrungsverordnungen und -verfügungen zu erlassen, «wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert». Hat Nationalrat Pfister Recht? Darf der Bundesrat am Gesetz vorbei, direkt gestützt auf die Verfassung, die Ausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial (zum Beispiel via Deutschland) an die Ukraine bewilligen?

Die rechtliche Ausgangslage

Weshalb stellt sich diese Frage überhaupt? Weil das geltende Kriegsmaterialrecht eine Ausfuhr in von Schweizer Kriegsmaterial in Länder verbietet die in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind. Am 1. Mai 2022 treten die Änderungen im Kriegsmaterialgesetz, die das Parlament in der Herbstsession 2021 als indirekten Gegenvorschlag auf die Volksinitiative «Gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer (Korrektur-Initiative)» erlassen hat. Mit dieser Änderung werden die «Bewilligungskriterien für Auslandsgeschäfte» von der Kriegsmaterialverordnung ins Gesetz überführt. Die noch geltende Verordnung enthält inhaltlich dieselben Anforderungen.

Wie weit geht die Interessenwahrungs-Kompetenz des Bundesrats nach Artikel 184 BV? Art. 184 Abs. 3 BV soll es dem Bundesrat erlauben, schnell zu handeln, wenn es die Interessen der Schweiz erfordern. Schnell handeln bedeutet, das übliche Gesetzgebungsverfahren mit einer dringlichen (und befristeten) Anordnung umgehen. Der Zweck dieser Kompetenz besteht darin, eine Lücke im Gesetz zu stopfen: Wo keine Rechtsgrundlage zum Handeln vorgesehen ist, gibt dieses dringliche Instrument Abhilfe. Soweit ist sich die Lehre einig: Siehe anstelle vieler und auch für die weiteren Ausführungen: Jörg Künzli, in: Basler BV-Kommentar, Basel 2015, Art. 184 Rz. 41; Felix Schwendimann / Binh Tschan-Truong / Daniel Thürer, in: St. Galler BV-Kommentar, 3. Auflage, Zürich usf. 2014, Art. 184 Rz. 26;  Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Auflage, Bern 2021, Rz. 1673.

Umstritten ist hingegen, ob die Verfassung dem Bundesrat auch eine Grundlage gibt, um entgegen einer vorhandenen, aber anderslautenden Gesetzesbestimmung zu handeln. Ein Teil der Lehre will das immerhin bei «aussergewöhnlichen» oder «ausserordentlichen« Umständen zulassen. 

Geht es bei der Kriegsmaterial-Ausfuhr an die Ukraine also um einen Fall, in dem das Gesetz zwar etwas anderes sagt, der Bundesrat aber davon abweichen darf? Das ist eine akademische Frage, auf die wir hier keine abschliessende Antwort geben können. Für die laufende Diskussion gibt aber das Gesetzgebungsverfahren über das kürzlich geänderte Kriegsmaterialgesetz Aufschluss.

Das Parlament hat die Ausnahmekompetenz für den Bundesrat verworfen

In welchen Fällen der Bundesrat vom Grundsatz, keine Waffen in Konfliktgebiete zu liefern, abweichen darf, ist im Kriegsmaterialgesetz geregelt. Es ist kein Fall, in dem das Gesetz die Frage offen lässt. Ist es nun aber so, dass das Gesetz den relevanten Fall einfach nicht bedacht hat und der Bundesrat eine unvollständige Regelung ergänzen muss?

Nein. Denn der Bundesrat wollte im Gegenvorschlag zur Korrektur-Initiative diese Frage im Gesetz klären, das Parlament entschied sich explizit dagegen. In seinem Entwurf sah der Bundesrat im Artikel 22b vor: «Der Bundesrat kann von den Bewilligungskriterien nach Art. 22a abweichen, wenn ausserordentliche Umstände vorliegen und die Wahrung der aussen- oder der sicherheitspolitischen Interessen des Landes dies erfordert.»

In der dazugehörigen Botschaft führte er aus (BBl 2021 623, Seite 39):

«Ohne Abweichungskompetenz … liesse das Gesetz kaum politischen Interpretationsspielraum zu. Eine Güterabwägung durch den Bundesrat wäre also nur noch gestützt auf die Verfassung, insbesondere Artikel 184 BV, möglich. Eine solche auf die BV gestützte Bewilligung von Kriegsmaterialausfuhren stünde dem expliziten Wortlaut des Gesetzes entgegen und könnte staatspolitische Fragen aufwerfen, weshalb eine gesetzlich vorgesehene Abweichungskompetenz klare Verhältnisse schafft. Mit einer Abweichungskompetenz ist der Bundesrat für den Fall einer raschen Eskalation derartiger Spannungen gewappnet und kann innerhalb des rechtlichen Rahmens und anhand eng definierter Kriterien eine Güterabwägung vornehmen.»

Das Parlament entschied sich dann aber, diesen Weg zu gehen. Die Korrektur-Initiative wollte ja gerade die Entscheidungskompetenz des Bundesrates einschränken. Wenn der Gegenvorschlag eine solche Ausnahme vorsehe, wäre das Anliegen der InitiantInnen ungenügend berücksichtigt. Im Ständerat setzte sich der Antrag knapp durch (mit 22:20 Stimmen), den bundesrätlichen Art. 22b zu streichen. Ständerätin Andrea Gmür (Mitte/LU) sah in diesem Artikel «das Kernstück, die Pièce de Résistance dieser Initiative». Nur die Streichung bringe die geforderte «Kompetenzverschiebung in Sachen Kriegsmaterialexporte von der Exekutive auf die Legislative».

Ständerat Daniel Jositsch (SP/ZH) sah in der Abweichungskompetenz, wie sie der Bundesrat vorgeschlagen hatte, gar einen «Schelmenstreich». Er gab zu bedenken, die Voraussetzungen «ausserordentliche Umstände» und «Wahrung der aussen- oder sicherheitspolitischen Interessen» könne der Bundesrat fast beliebig anführen.

Nach dem knappen Entscheid im Ständerat bestätigte der Nationalrat diese Streichung sehr deutlich mit 139:53 Stimmen. Nationalrat Pierre-Alain Fridez (SP, JU) machte deutlich, weshalb Art. 22b zu streichen ist:

«Nous n’avons aucune confiance dans le Conseil fédéral sur ce sujet.» 

Nationalrätin Gabriela Suter (SP/AG) doppelte nach:

«Einen indirekten Gegenvorschlag mit dieser Ausnahmeklausel zu präsentieren, ist schlicht unehrlich, denn faktisch lässt die Ausnahmeklausel dem Bundesrat genau wieder jenen Spielraum, den er jetzt schon hat. So nicht!» 

Der Bundesrat, vertreten durch Guy Parmelin, verstand dieses fehlende Vertrauen denn auch ebenso deutlich: das Parlament verfolge eine «Stratégie maximale, Parce que l’objectif, en filigrane, est une interdiction totale.»

Wie schon der Ständerat bestätigte der Nationalrat, dass es gerade darum gehe, die Entscheidungsmacht von der Regierung zum Parlament zu verschieben. Nationalrat François Pointet (GLP/VD):

«Il est clair que restreindre la marge de manoeuvre du Conseil fédéral ralentit la chaîne de décisions, mais s’il l’on veut plus de démocratie dans le domaine des exportations d’armes, le Parlement doit reprendre la main.»

Es war also gerade die Absicht des Parlaments, dem Bundesrat die Möglichkeit zu entziehen, Ausnahme-Ausfuhren zu bewilligen. Sollen die Entscheidwege halt länger werden, das Parlament müsse – im Sinn der Demokratie – das Heft in die Hand nehmen.

Und wenn sich der Bundesrat trotzdem auf Artikel 184 stützte?

Es ist also nicht so, dass der Bundesrat mit einer Interessenwahrungsverordnung eine unklare gesetzliche Regelung ergänzen könnte. Er würde sich über den vor wenigen Monaten ausdrücklich bekräftigten Willen des Parlaments hinwegsetzen. Artikel 184 BV gibt ihm diese Möglichkeit. Wie die Regierung selber sagte, wirft das «staatspolitische Fragen» auf. Aber auch etwa Ständerätin Gmür, die im Ständerat für die Streichung des Ausnahme-Artikels weibelte, sagte:

«Sollte wirklich einmal ein absoluter Notfall eintreten, so hat der Bundesrat ja immer noch die Möglichkeit – wir haben es jetzt während der Pandemie gesehen –, auf das Notrecht zurückzugreifen. Da käme dann Artikel 184 Absatz 3 oder Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung zum Tragen.»

Der Bundesrat hat die Kompetenz, auch wenn sie rechtlich auf wackligem Boden steht. Er würde nicht eine fehlende oder unklare gesetzliche Regelung umgehen, er würde sich aufgrund einer anderen Interessenabwägung über das Parlament hinwegsetzen.

Wie wäre dieses staatspolitische und demokratische Problem zu lösen? Das Parlament könnte selber eine dringliche Verordnung (oder einen Bundesbeschluss) erlassen: Die Bundesverfassung gibt auch ihm eine solche Not- und Interessenwahrungskompetenz, «wenn ausserordentliche Umstände es erfordern» (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV). Es läge am Parlament seinen deutlichen Entscheid vom letzten Herbst umzukehren und in diesem Fall des russischen Angriffkriegs auf die Ukraine die Ausfuhr von Schweizer Kriegsmaterial zu bewilligen. Das Parlament wollte dem Bundesrat die Kompetenz entziehen, jetzt müsste es sie selber ausüben.

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