«Die Justiz» ist keine Gegnerin «des Volkes»
Von Ulrich Gut
Urteile, die auch politisch bedeutsam sind, werden vermehrt zum Anlass genommen für Versuche, «das Volk» gegen «die Justiz» auszuspielen. Was ist davon zu halten? Gerichtsurteile sind selbstverständlich der Meinungs- und Medienfreiheit ausgesetzt. Ihre öffentliche Kritik ist legal und legitim, und sie ist auch demokratisch notwendig für die Weiterentwicklung des Rechts. Keine Richterin, kein Richter wird dies bestreiten.
Notwendig ist aber, dass über die kritisierten Urteile zutreffend informiert wird. Leider stellen wir immer öfter fest, dass Kritik nur das Ergebnis attackiert, ohne auf die Urteilsbegründung einzugehen. Sofern sich redigierte Medien überhaupt noch eine kompetente Gerichtsberichterstattung leisten, eilt dieser oft Spontan-Polemik in politischen Ressorts, in Kommentaren von Leserinnen und Lesern und in den sozialen Medien voran, deren Wirkung nur noch schwer zu korrigieren ist, wenn überhaupt. Und nun haben Urteile des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Kampagne ausgelöst, die «das Volk» gegen «die Justiz» zu mobilisieren trachtet.
Gerichte haben das Recht anzuwenden und durchzusetzen
Aufgrund der Gewaltenteilung haben Gerichte das Recht anzuwenden und durchzusetzen, das die Gesetzgebung erlassen hat, oder das im Falle von Staatsverträgen die Konventionsstaaten erlassen haben. Wenn das Recht lückenhaft oder durch eine wichtige Entwicklung in Technik, Umwelt, Wirtschaft oder Gesellschaft überholt ist, kann es nötig werden, dass die Gerichte es weiterentwickeln, bis Gesetzgebung oder Konventionsstaaten es vervollständigen und à jour bringen.
Wenn Gerichte schweizerisches Recht anwenden, schützen sie unmittelbar den Volkswillen, denn die Gesetze sind direktdemokratisch legitimiert, sei es durch einen Volksentscheid oder durch das Ausbleiben eines Referendums. Wenn sie Verfassungsrecht anwenden, schützen sie zudem den Willen einer Mehrheit der Kantone, denn Verfassungsnormen wurden durch den Willen von Volk und Ständen erlassen. Die Gerichte haben also das demokratisch legitimierte Recht durchzusetzen. Sie hindern insbesondere Regierungen und Verwaltungen daran, es zu missachten.
Anti-Justiz-Kampagne
„Ist das Volk zu dumm?“, überschrieb die NZZ-Redaktorin Katharina Fontana einen Abschnitt ihres Artikels „Richter gegen Politiker: Die Justiz strapaziert die Demokratie“ (NZZ 7.1.25). „Das Volk“ – in Wirklichkeit die Vielfalt und Gesamtheit der Abstimmenden – war aber bisher so klug, darauf zu bestehen, dass die Justiz die Grundrechte der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wirksam schützt. Volk und Stände verwarfen 2018 die „Selbstbestimmungsinitiative“ der SVP, die diesen Schutz beseitigt hätte, mit 66,2% der Stimmenden und allen Kantonsstimmen.
Neustes Beispiel eines Urteils, das die Anti-Justiz-Kampagne sofort vereinnahmte, ist dasjenige über die katholische Mädchensekundarschule «St. Katharina». Dr. iur. Patrice Martin Zumsteg, Vorstandsmitglied von UNSER RECHT, nimmt in seinem auf der Website von UNSER RECHT veröffentlichten Kommentar hierzu folgendermassen Stellung:
«(…) Ausgeblendet wurden die juristischen Argumente: Wer öffentliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden. Das bestimmt schon unsere Verfassung (Art. 35 Abs. 2 BV). Ebenso von Verfassungsrang sind die Gleichstellung der Geschlechter (Art. 8 Abs. 3 BV) und die Verpflichtung des Staates zu religiöser und konfessioneller Neutralität (Art. 15 BV). Rein privaten Schulen – das ist die «Kathi» eben nicht – steht es weiterhin frei, ihre religiöse oder wie auch immer geartete Ausrichtung zu behalten. Von all dem findet sich in den Kommentaren kein Wort. Ebenfalls übergangen wurde der Umstand, dass die schriftliche Begründung des Bundesgerichts noch aussteht. Eine wirklich differenzierte Auseinandersetzung mit der neusten Rechtsprechung wird erst dann möglich sein. Aber um sachliche – und als solche erwünschte – Kritik scheint es ohnehin nicht (mehr) zu gehen. Gezielt werden die Grundrechte und die Justiz desavouiert, wenn Urteile den «Falschen» zu Gute kommen oder angeblich Ausdruck eines woken Zeitgeists sind. Dabei ist ein starker Rechtsstaat zentral für die Freiheit von uns allen – nicht zuletzt für die Meinungsfreiheit der Kritikerinnen und Kritiker.»
Dr. iur. Ulrich Gut ist Präsident von UNSER RECHT.