“Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit” (Berlin 2012, Aufbau Verlag).

Die Schweizer Juristin und Politikerin Gret Haller widmete ihr Wirken zu einem grossen Teil den Menschenrechten. Dies begann mit ihrer Dissertation über die UNO-Menschenrechtspakte. Herausgegriffen sei, dass sie 1994-1996 Schweizer Botschafterin beim Europarat und 1996-2000 Menschenrechtsbeauftragte der OSZE für Bosnien-Herzegowina in Sarajewo war. Die Universität St. Gallen würdigte ihr Engagement im Bereich der Menschenrechte mit dem Ehrendoktorat.

Nun greift Gret Haller mit einer grundsätzlichen und konzisen Stellungnahme in die Debatte um die Zukunft der Menschenrechte und ihres Schutzes ein: “Menschenrechte ohne Demokratie? Der Weg der Versöhnung von Freiheit und Gleichheit” (Berlin 2012, Aufbau Verlag). Sie warnt davor, sich auf den institutionellen, gerichtlichen, insbesondere internationalen Schutz der Menschenrechte zu verlassen. Aus ihrer Sicht sind die Menschenrechte nur so stark wie ihre demokratische Legitimationsbasis. Gret Haller hält die Menschenrechte auch nicht für exportfähig: Sie müssen überall selbständig demokratisch “ausgehandelt” werden.

Gespannt schlägt man die Seiten auf, auf denen sie sich mit internationalen, insbesondere europäischen Menschenrechtsschutz, und mit der Verfassungsgerichtsbarkeit auseinandersetzt – und ist nicht überrascht, dass sie deren Kehrseite hervorhebt. Das einschlägige Kapitel steht unter dem Titel “Die nationale Ebene als Basis”.

Auszug (S. 169 ff.):

“(…) Durch die Internationalisierung der Menschenrechte haben sich diese den nationalen demokratischen Institutionen entzogen. Sie sind gleichsam auf die internationale Ebene vorausgeeilt – ‚voraus’ in einer zeitlichen Dimension, die sich in Jahrzehnten bemisst und auch ein Jahrhundert erreichen könnte. Wenn es nicht oder noch nicht möglich ist, auf der internationalen Ebene demokratische Institutionen einzurichten, könnte man versuchen, die international garantierten Rechte von der nationalen Ebene aus stärker demokratisch zu legitimieren. Dieser Vorgang findet in beschränktem Rahmen schon heute statt. Da die international positivierten Menschenrechte alle Staaten einbinden, welche die entsprechenden Verträge unterzeichnet haben, wird bei jeder Grundrechtsdiskussion in nationalen Parlamenten ohnehin zugleich über die internationalen Rechte diskutiert. Zwar ist die Mitwirkung nur eine indirekte, aber durch solche Diskussionen beeinflusst ein Parlament auch seine Regierung im Hinblick auf künftige internationale Verhandlungen.

Auf diesem Wege kann die demokratische Legitimierung internationaler Menschenrechte weiter verstärkt werden, und in verschiedenen Ländern sind Ansätze dazu bereits vorhanden. In den Verfahrensvorschriften der nationalen Parlamente oder wo nötig in der Verfassung kann die Möglichkeit einer formellen Mandatierung der Regierung vorgesehen werden, was internationale Verhandlungen im Bereich der Menschenrechte anbelangt. (…)

Die indirekte Förderung der demokratischen Legitimation der Menschenrechte ist aber nur dann möglich, wenn diese Legitimation auf der nationalen Ebene auch wirklich entstehen kann. Damit ist einmal mehr die Gewaltengliederung im Nationalstaat angesprochen. In Staaten mit einer stark ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit wird die demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte notwendigerweise geschwächt, vor allem wenn das Gericht über die Kompetenz verfügt, vom Parlament verabschiedete Gesetze ausser Kraft zu setzen, falls sie Grund- und Menschenrechte verletzen. In solchen Ländern kann sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck verbreiten, Menschenrechte würde dem Einzelnen ‚vom Richter verliehen‘. Höchstrichterliche Instanzen erfahren eine Aufwertung und zunehmende Popularität, weil sich der Einzelne bei ihnen ‚sein Menschenrecht holen kann‘. Die demokratischen Institutionen, welchen die Aushandlung und Bestimmung der Rechte obliegt, erleiden demgegenüber einen Popularitätsverlust, der vielfältig begründet wird, kulminierend in der zwar nicht offen ausgesprochenen Vermutung, Politiker seien ohnehin so selbstverliebt, dass die Vertretung eines Allgemeininteresses von ihnen nicht erwartet werden könne. Dazu kann auf nationaler Ebene auch die bereits erwähnte Wahrnehmung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten beitragen. Auf der Rückseite der Medaille mit dem schönen Bild der Heiligsprechung der Zivilgesellschaft befindet sich nämlich immer – auch wenn es vielen zivilgesellschaftlichen Enthusiasten nicht bewusst ist – eine Abwertung des gesamten Bereichs des Politischen, der Demokratie also, wie sie in den öffentlichen Institutionen stattfindet. (…)“

Diese Notiz kann und soll nicht mehr sein als der spontane Reflex eines ersten Blick in ein verfassungspolitisch höchst relevantes Buch, dem zu wünschen ist, dass es in Fachwelt und Politik als konstruktive, weiterführende Herausforderung aufgenommen wird, die eine unbefangen geführte Diskussion verdient.

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