Auszug aus dem Artikel “Lehren, die nach dem Nein zur Selbstbestimmungsinitiative zu ziehen sind”, von Jörg Paul Müller, emeritierter Ordinarius für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Bern:

“Die klare Ablehnung der Selbstbestimmungsinitiative zeigt, dass neben dem Parlament auch das Stimmvolk keine grundrechtswidrige wörtliche Umsetzung eines neuen Verfassungstextes akzeptieren will.

(…) Eine Lehre, die mit Sicherheit aus den Auseinandersetzungen vor der Abstimmung vom 25. November und dem Schicksal der Initiative «gegen fremde Richter» gezogen werden kann, gilt zukünftigen Urhebern von Volksinitiativen: Es lohnt sich, vor einer Unterschriftensammlung oder vor der Einreichung die Frage der Völkerrechtskonformität der Initiative mit einiger Sorgfalt zu prüfen.

Gerade die neuere politische Praxis der Schweiz zeigt, dass bereits innerstaatlich – also vor einer Reaktion anderer Staaten oder einer internationalen Gerichtsbarkeit – ein Widerstand gegen völkerrechtswidrige Verfassungsgebung besteht. In diesem Sinn ist zu würdigen, dass Bundesrat und Parlament in der Ausführungsgesetzgebung sowohl zur Ausschaffungs- wie zur Masseneinwanderungsinitiative zum Ausdruck brachten, dass sie völkerrechtlichen Verpflichtungen jedenfalls im Ergebnis Vorrang gegenüber einer wortgetreuen Umsetzung der Volksinitiative gaben.

Insofern lässt sich eine Pragmatik feststellen, die für den faktischen Vorrang des Völkerrechts vor Landesrecht auch auf der Stufe von Verfassungsrecht spricht. Dass gegen keine dieser Gesetzgebungen ein Referendum zustande kam oder ergriffen wurde, lässt sich als eine Form stillschweigender Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zum Vorgehen der politischen Behörden verstehen, obwohl darin noch keine verfassungsbildende Praxis gesehen werden kann.

Die Sensibilität der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gegenüber möglichen Völkerrechtsverletzungen, ganz besonders im Bereich der Menschenrechte, hatte sich auch bereits bei der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative erwiesen; der Widerstand gegen diese Initiative hat sich fast ausschliesslich mit menschenrechtlichen Argumenten durchgesetzt. Nicht nur das Parlament, sondern auch das referendumsberechtigte Volk scheinen aufgrund dieser Erfahrungen nicht geneigt, eine grundrechtswidrige wörtliche Umsetzung eines neuen Verfassungstextes zu akzeptieren.

All dies stellt im Ergebnis die Erfolgschancen einer Initiative, die internationales Recht und in besonderem Masse Menschenrechte zu verletzen droht, schon im Bereich der innerstaatlichen Rechtsbildung infrage. Aber auch auf der Ebene des Völkerrechts mit seinen differenzierten Sanktionsmechanismen bestehen zu viele mögliche Hindernisse, als dass sich Bemühungen um völkerrechtswidrige Gesetz- oder Verfassungsgebung rechtfertigen liessen oder auch ganz praktisch lohnen würden.”

Link zum Artikel.

Print Friendly, PDF & Email