In den schweizerischen Diskussionen über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vernimmt man oft und laut den Ruf nach Zurückhaltung: Subsidiarität, wie in der Präambel zum 15. Zusatzprotokoll verankert; “self restraint”; “margin of appreciation”.

Nun ist ein anderer Ruf zu vernehmen: Nach einem Urteil des EGMR, wonach Österreich einen Strafartikel gegen Blasphemie anwenden durfte, wird “Strassburg” aufgefordert, der Freiheit zur Verletzung religiöser Gefühle die Bahn freizumachen.

Lorenz Langer, Lehrbeauftragter im öffentlichen Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich und Forschungsbeauftragter am Liechtenstein-Institut, hält dem EGMR vor, die religiösen Gefühle gegenüber politischen und historischen Überzeugungen zu bevorzugen:

“(…) Im Perinçek-Fall gegen die Schweiz hatte der EGMR 2015 entschieden, dass die Bestrafung eines türkischen Politikers wegen Leugnung des Armenier-Genozids die Redefreiheit verletze. Denn diese Leugnung führe zu keiner konkreten Bedrohung und historische Forschung sei definitionsgemäss kontrovers. Die Verurteilung der Seminarleiterin für Äusserungen, die ebenfalls eine rein abstrakte Gefährdung schufen, schützt der EGMR hingegen und rügt ihre inkorrekte Wiedergabe historischer Fakten.

Mehr noch – eine solche Abschirmung religiöser Gefühle soll sogar konventionsrechtlich geboten sein. Aber obliegt es wirklich dem nationalen Gesetzgeber, gestützt auf religiöse Dogmatik zu entscheiden, welche religiösen Sensibilitäten strafrechtlich zu schützen sind? Wenn die theologische Perspektive bestimmt, welche Personen und Themen der (oft eben) kaustischen Kritik entzogen werden, so wird die öffentliche Diskussion in einem ganz zentralen Aspekt gehemmt.

Einmal mehr legt der EGMR bei Religionen einen anderen Massstab an. In den öffentlichen Gottesdiensten zahlreicher Religionen wird den Anders-, Nicht- und erst recht den Nicht-mehr-Gläubigen moralische Verderbtheit vorgeworfen und mit ewigem Höllenfeuer gedroht. Aber diese verlorenen Seelen sind offenbar robust genug, um solche Anwürfe auszuhalten – obwohl die Konvention auch ihre Überzeugungen schützt.”

Link zum Artikel “Strassburg, wie hast du’s mit der Religion?”, NZZ 28.11.18)

 

Print Friendly, PDF & Email