Was sagt das Urteil kurz und konkret?

Von Julia Hänni

 

Einleitung

Es ist schon etwas länger her, seit eine Entscheidung derart intensiv diskutiert wurde, wie das Urteil KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz. Das ist Anlass, die Kernaussagen des Urteils zusammenzufassen und dessen Tragweite zu beleuchten.

Im Folgenden sollen daher die Überlegungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (nachfolgend: EGMR) nachskizziert und die Leitlinien herausgearbeitet werden. Voranzustellen sind – in der hier gebotenen Kürze – die für das Gesamtverständnis des Urteils relevanten tatsächlichen und klimarechtlichen Rahmenbedingungen.

 

Neuartige Fragestellung

Dass sich Gerichte mit dem Ausgleich von negativen Auswirkungen des Klimawandels befassen, ist neu. Denn Klimaschäden wurden juristisch lange Zeit als unvorhersehbares äusseres Ereignis verstanden, als höhere Gewalt eingestuft. Jedoch: Je mehr naturwissenschaftlich aufgezeigt werden kann, dass die Erderwärmung sehr wahrscheinlich auf vom Menschen verursachte Faktoren zurückzuführen sei, desto mehr stellt sich auch die Frage nach der juristischen Bewältigung, auch für den Bereich der Grundrechte.

Genau in diesem Bereich ist das Urteil KlimaSeniorinnen zu verorten, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Konventionsrechte: Nachdem dieses Thema noch 2019 kaum bearbeitet war, haben mittlerweile verschiedene Gerichte in Europa – bisweilen Aufsehen erregende – Leiturteile zum Klimaschutz im Zusammenhang mit Menschenrechten erlassen. Sie haben dabei Verletzungen nationaler Umweltschutzbestimmungen wie auch der Art. 8 (Schutz des Privatlebens) und Art. 2 der Konvention (Schutz des Lebens; z.B. bei drohenden Überflutungen) festgestellt. Ergangen sind namentlich die Leiturteile Urgenda des obersten niederländischen Gerichts (Hoge Raad), der Klimaschutzbeschluss des Deutschen Bundesverfassungsgerichts und Urteile des Conseil d’État in Frankreich.

Mit dem Fall Verein KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz, Carême gegen Frankreich und Duarte Agostinho u.a. gegen Portugal und 32 andere Staaten (sog. Trilogie der Klimafälle), stellte sich erstmals die Frage von Konventionsverletzungen im Zusammenhang mit dem Klimawandel vor dem EGMR.

Der EGMR ist auf die beiden zuletzt genannten Rechtssachen nicht eingetreten. Im Fall KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz hat er bekanntlich eine Verletzung der Konvention festgestellt. Wie kam es dazu?

 

Klimarechtlicher Rahmen und spezifische Herausforderungen
 
a.) Klimaverträge

Um das Urteil im neuen Rechtsbereich zu verstehen, sind einige vorgängige Bemerkungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erforderlich. Zunächst zu den Klimaverträgen: Die Staatengemeinschaft ist seit den 1990er-Jahren bestrebt, die anthropogene Erwärmung der Erdatmosphäre zu begrenzen. Das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen von 1992 (sog. Klimarahmenkonvention) hat zum Ziel, die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentrationen in der Atmosphäre „auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird“ (Art. 2). Die Vertragsstaaten sollen die Reduktion der Treibhausgasemissionen (nachfolgend THG-Emissionen) mit gemeinsamen, aber im Rahmen ihrer jeweiligen Fähigkeiten unterschiedlichen Mitteln erreichen („entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten“; Art. 3 Abs. 1).

Ein Protokoll zur Konkretisierung des Rahmenabkommens ist das Klimaübereinkommen von Paris. Dieses hat zum Ziel, die Durchführung der Klimarahmenkonvention zu stärken, indem insbesondere der Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur „deutlich unter 2°C über dem vorindustriellen Niveau“ zu halten bzw. „Anstrengungen“ zu unternehmen seien, „um den Temperaturanstieg auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen“ (Art. 2 Abs. 1). Das Ziel soll im Wesentlichen über nationale Reduktionsbeiträge erreicht werden (Art. 3) – mithin über Reduktionsmassnahmen, wie sie sich die Vertragsstaaten selbst auferlegen (sog. NDCs: nationally determined contributions).

Das Klimaübereinkommen von Paris sieht hierfür vor, dass der selbst festgelegte Reduktionsbeitrag die „grösstmögliche Ambition“ ausdrückt. Ein konkret zu erfüllender Reduktionsbeitrag wird vom Abkommen indessen nicht verlangt. Das Abkommen statuiert insofern eine Pflicht, Massnahmen vorzusehen, die in guten Treuen geeignet erscheinen, das Ziel der Verträge zu erreichen. In diesem Rahmen handelt es sich um eine bindende Rechtspflicht, genauer um eine Verhaltenspflicht (im Gegensatz zu einer Ergebnispflicht). Der allgemeine Begriff der staatlichen Sorgfalt ist im Völkerrecht typischerweise mit der möglichen Verantwortung eines Staates für Verhaltenspflichten verbunden.
 
b.) Berichte des Weltklimarats

Der Weltklimarat (engl. «Intergovernmental Panel on Climate Change»; IPCC) ist gleichzeitig zwischenstaatlicher Ausschuss und wissenschaftliches Gremium der UNO in Klimafragen mit Sitz in Genf. In seinem Spezialbericht vom 8. Oktober 2018 bzw. in Folgeberichten stellt der Weltklimarat fest, dass mit den bisher im Rahmen des Klimaabkommens von Paris zugesagten nationalen Reduktionsbeiträgen im Jahr 2100 eine Erhöhung der Temperaturen um 2,9-3,4°C gegenüber dem vorindustriellen Klima zu erwarten ist; jede weitere Erwärmung, besonders über 1,5°C hinaus, vergrössere die Gefahr langanhaltender oder nicht mehr umkehrbarer Veränderungen (etwa der Überflutung von Städten, des Verlusts von Ökosystemen, der Bedrohung der Nahrungsmittelproduktion etc.).

Der EGMR stützt sich für die Beurteilung der behaupteten Konventionsverletzungen infolge Klimawandels auf entsprechende Berichte: Er geht zunächst von der anthropogen verursachten Klimaveränderung als einem Faktum aus und erachtet, dass eine Reduktion der Erderwärmung auf 1.5°C die grössten Risiken und negativen Auswirkungen der Klimaänderung wesentlich reduzieren würde. Aus seiner Sicht gibt es sodann hinreichend verlässliche Anhaltspunkte, dass die negativen Auswirkungen des Klimawandels eine ernsthafte Bedrohung für die Ausübung der Menschenrechte sein können. Ebenso geht der EGMR davon aus, dass sich die Staaten dessen bewusst sind sowie – namentlich über weitere Beschlüsse in der Vertragsstaatenkonferenz (Glasgow Climate Pact; Scharm el-Sheik Implementation plan) – anerkannt haben, ihre Bemühungen fortzusetzen, die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen.

Soweit also die Prämissen, die der EGMR in sachverhaltlicher Hinsicht voraussetzt und die der materiellen Beurteilung der Klage zugrunde liegen. Vorab sollen aber die wichtigsten Ausführungen des EGMR zur Frage zusammengetragen werden, wer überhaupt dazu legitimiert sein soll, im Bereich von Klimaschäden Beschwerde zu erheben.

 

Fragen der Zulässigkeit von Klimabeschwerden: von Privaten und von Organisationen
 
a.) Überblick

Die Vertragsstaaten der EMRK – auch die Schweiz – wie auch der EGMR selbst setzen für die Zulässigkeit einer Beschwerde grundsätzlich voraus, dass eine Person Opfer einer Konventionsverletzung ist. Beschwerden sind nicht aufgrund von öffentlichen Interessen zu erheben, sondern weil die Beschwerdeführenden selbst betroffen sind.

Der EGMR hatte im Fall KlimaSeniorinnen zunächst die Frage zu beantworten, wie für den Bereich der Klimaklagen die individuelle Betroffenheit von einer actio popularis (Popularklage) abzugrenzen ist. Er schlägt hierfür ein Konzept von unterschiedlichen Anforderungen für Individuen einerseits und Organisationen andererseits vor.
 
b.) Beschwerdelegitimation von Individuen

Für Individuen wird die Hürde, Klage erheben zu können, sehr hoch angesetzt («extremely high threshold»): Sie müssen einer gerichtlichen Behörde nahelegen, dass sie den Auswirkungen des Klimawandels in hohem Mass ausgesetzt sein («high intensity of exposure»); d.h. die negativen Auswirkungen der staatlichen Handlung oder Unterlassung (oder das Risiko derselben) müssen sie schwer beeinträchtigen, und zudem muss daraus eine zwingende Notwendigkeit («pressing need») folgen, die fragliche Person zu schützen. Die Umschreibung dürfte sich auf Konstellationen beziehen, in denen die betroffene Person selbst nicht mehr in der Lage ist, sich zu schützen.

Der EGMR hat eine derartige Beeinträchtigung für die vier (neben der Vereinigung) für sich individuell Beschwerde führenden älteren Frauen, von denen eine mittlerweile verstorben war, verneint. Sie hatten aus Sicht des EGMR nicht aufzuzeigen vermocht, dass eine dringende Notwendigkeit bestanden hätte, sie (einzeln) besonders zu schützen. Daraus wird auch ersichtlich, dass nicht – wie dies teilweise in den Medien zu lesen war – einzelne Personen eine Menschenrechtsverletzung erleiden, weil sie wegen der erhöhten Temperaturen «nicht einschlafen können». Gerade das sagt das Urteil nicht, sondern verlangt eine erhebliche persönliche Beeinträchtigung, verbunden mit der zwingenden Notwendigkeit des Schutzes dieser Person. Man könnte etwa an Überflutungen und Verlust des Eigentums im Zusammenhang mit dem (von der Schweiz nicht ratifizierten) Protokoll 1 zur EMRK denken.
 
c.) Beschwerdelegitimation von Vereinigungen

Vergleichsweise einfacher zur Beschwerde zugelassen hat der EGMR demgegenüber die Vereinigung. Organisationen wird vom EGMR die zentrale Rolle im Bereich des Ausgleichs von Klimaschädigungen zuerkannt. Weshalb? Aus Sicht des EGMR ist es – er hat dies bereits in seiner älteren Rechtsprechung (namentlich im Urteil Gorraiz Lizarraga, 2004) festgehalten – für Individuen vielfach nicht möglich, Beschwerde über (Gesamt-) Zusammenhänge im Umweltbereich zu führen. Dies führt der EGMR einerseits auf die Komplexität der Verfahren zurück, andererseits aber auch auf die hierfür erforderlichen wissenschaftlichen Expertisen und sonstigen Aufwendungen. Es dürfte für Einzelne z.B. schwierig sein, nicht nur zum Klimawandel selbst, sondern auch zu den Auswirkungen desselben wie auch zu getroffenen und nicht getroffenen Massnahmen belastbare Daten zu liefern. Auch die anfallenden Aufwendungen von rund CHF 700’000.— (vgl. Urteil KlimaSeniorinnen, Rz. 648) kann ein einzelner Betroffener kaum stemmen.

Der EGMR entwickelt daher für den Bereich der Klimaklagen Voraussetzungen, unter welchen Organisationen zur Beschwerde zuzulassen sind. Hierfür muss die Vereinigung (1.) gesetzmässig gegründet sein und sich (2.) den Zielen verschreiben, die der Verteidigung der Menschenrechte ihrer Mitglieder im Zusammenhang mit der Eindämmung schädigender Auswirkungen infolge Klimawandels dienen. Erforderlich ist (3.), dass die Organisation in der Sache hinreichend qualifiziert ist.

Diese Anforderungen sah der EGMR bei der Vereinigung KlimaSeniorinnen als erfüllt an, sodass er ihre Beschwerde in der Sache behandelte. Das Konzept ist in schweizerischer Sichtweise als ein solches zwischen ideeller und egoistischer Verbandsbeschwerde anzusiedeln, ohne dass jedoch vorausgesetzt wird, die einzelnen Mitglieder hätten die Opfereigenschaft selbst zu erfüllen (im Gegensatz zur egoistischen Verbandsbeschwerde, bei der eine grosse Anzahl der Mitglieder selbst legitimiert sein müssen). Beim qualitativen Kriterium (oben [3.]) dürfte den Mitgliedstaaten ein erheblicher Ermessensspielraum zustehen, welche Organisationen sie als hinreichend qualifiziert ansehen, Konventionsverletzungen in Vertretung ihrer Mitglieder vorzutragen. In den Mitgliedstaaten werden sich hierzu – wohl unterschiedliche – Praxen entwickeln.

Die Opfereigenschaft wird vom EGMR dabei im Urteil KlimaSeniorinnen jeweils zusammen mit der angerufenen Bestimmung geprüft. Während für die Opfereigenschaft im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) die obigen drei Voraussetzungen gelten, kommt für die Anwendung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) eine weitere Voraussetzung hinzu: Es muss um Rechtsansprüche gehen, die im nationalen Recht verankert sind. Da die Beschwerde der Vereinigung die Nichteinhaltung des damals gültigen nationalen CO2-Gesetzes wie auch von Art. 10 BV zum Gegenstand hatte, war die Opfereigenschaft auch unter Art. 6 EMRK gegeben.

 

Art. 6 EMRK – Recht auf Zugang zu einem Gericht

Nachdem die Beschwerde der Vereinigung demnach zulässig war, stellte sich für den EGMR in einem weiteren Schritt die Frage, ob die schweizerischen Gerichte den Anforderungen der Konvention verfahrensrechtlich genügt haben.

Art. 6 EMRK («Recht auf ein faires Verfahren») verbürgt u.a. das Recht, dass bei Vorliegen einer „Streitigkeit“ über ein innerstaatliches Recht der Zugang zu einem Gericht gewährleistet ist. Liegt eine solche vor, beinhaltet Art. 6 EMRK insbesondere den Anspruch, eine Entscheidung in der Sache zu erhalten.

Das Recht auf Zugang zu einem Gericht setzt gemäss der ständigen Rechtsprechung des EGMR voraus, dass das als verletzt angerufene nationale Recht (1.) einen zivilrechtlichen Charakter («civil right») aufweist, dass (2.) eine ernsthafte Streitigkeit zugrunde liegt und dass (3.) ihr Ausgang für das angerufene Zivilrecht entscheidend ist. Klarzustellen ist hier auch, dass sich Art. 6 EMRK und der darin verbürgte Zugang zu einem Gericht auf beschlossene schweizerische Gesetze bezieht, nicht aber auf behauptete Unterlassungen der Gesetzgebung selbst.

Die Beschwerde der Vereinigung hatte das behauptete rechtswidrige Unterlassen von Massnahmen gemäss des von der schweizerischen Gesetzgebung selbst vorgeschriebenen Reduktionsziels von 20% bis 2020 (gegenüber dem Level von 1990) des vormaligen C02-Gesetzes wie auch eine Verletzung von Art. 10 BV zum Gegenstand. Im Umweltbereich hat der EGMR das Bestehen einer zivilrechtlichen Streitigkeit namentlich dann anerkannt, wenn die Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum auf dem Spiel stehen, wobei diese rechtsprechungsgemäss auch von Organisationen für sich angerufen werden können. Streitigkeiten in Umweltfragen qualifiziert der EGMR in seiner ständigen Rechtsprechung sodann auch als ernsthafte Streitigkeiten. Der EGMR konnte schliesslich festhalten, die Klage der Vereinigung sei gegen die Bedrohung durch negative Auswirkungen des Klimawandels gerichtet gewesen, was die Gesundheit und das Wohlbefinden ihrer Mitglieder beeinträchtigen könne (Art. 10 BV). Daher sei auch der Ausgang des Verfahrens für die durch die Vereinigung vertretenen Mitglieder entscheidend.

Folge davon – dass die genannten drei Voraussetzungen vorliegen – ist, dass Art. 6 EMRK der Konvention Zugang zu einem Gericht gewährt. Davon kann nur abgesehen werden, wenn eine Einschränkung des Zugangs zum Gericht verhältnismässig ist und die Rechte in ihrem Wesensgehalt nicht bedroht. Die Behörden und die Gerichte auf nationaler Ebene hatten die Beschwerde der Vereinigung KlimaSeniorinnen materiell nicht behandelt; sie hatten keine materielle Beurteilung der Streitsache vorgenommen. Der EGMR hielt seinerseits fest, dass es in der Schweiz zu keiner ernsthaften Prüfung der Vorbringen der Vereinigung gekommen war. Der EGMR war mit Bezug auf die behaupteten Unterlassungen und deren Zusammenhang mit einer Beeinträchtigung von Art. 10 BV namentlich nicht davon überzeugt, dass die Beschwerde den Charakter einer blossen Popularklage trug: Die Beschwerde war nicht bloss auf das öffentliche Interesse, sondern konkret auf die Nichteinhaltung eines nationalen Gesetzes gerichtet (hier des damaligen CO2-Gesetzes, das eine Reduktion um 20% bis 2020 vorsah), das die Rechte der Bürgerinnen und Bürger schützt.

Insbesondere war der EGMR nicht vom Argument der inländischen Gerichte überzeugt, dass noch Zeit bleibe, zu verhindern, dass die globale Erwärmung eine kritische Grenze erreiche. Die entsprechenden Feststellungen des obersten nationalen Gerichts beruhten für den EGMR nicht auf einer ausreichenden Prüfung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel, die zum massgeblichen Zeitpunkt bereits vorlagen, und trugen auch nicht der allgemeinen Anerkennung der Dringlichkeit der bestehenden und unvermeidlichen künftigen Auswirkungen des Klimawandels auf verschiedene Aspekte der Menschenrechte Rechnung.

Der EGMR nahm dabei auch Bezug auf die Stellungnahme der Regierung, die selbst eine hohe Dringlichkeit anerkannte, Treibhausgasemissionen zu senken. Es war aus Sicht des EGMR demnach nicht verhältnismässig, die Beschwerdebefugnis der Organisation in Vertretung ihrer Mitglieder einzuschränken, weil sich ihre Beschwerde auf bestehende Rechte (nicht einfach auf ein behauptetes Unterlassen der Gesetzgebung) bezieht. Das nationale Urteil schränkte so unzulässig die Essenz des konventionsrechtlichen Anspruchs auf Geltendmachung von Rechten vor einem nationalen Gericht ein.

Der EGMR stellte daher eine Verletzung des Zugangs der Bürgerinnen und Bürger bzw. hier der Vereinigung zu einer gerichtlichen Behörde gemäss Art. 6 EMRK fest, ihre Rechte (namentlich Art. 10 BV in Verbindung mit behaupteten Unterlassungen bei der Umsetzung des alten CO2-Gesetzes) wirksam geltend zu machen. Es bestand in der Schweiz keine hinreichende Möglichkeit, eine Verletzung der nationalen Bestimmungen vor den nationalen Gerichten beurteilt zu erhalten.

Während sich die Bedeutung des Urteils KlimaSeniorinnen für den Bereich von Art. 6 damit primär auf das nationale schweizerische Recht stützt, sind die Ausführungen des EGMR für Art. 8 auch für die anderen Vertragsstaaten sehr bedeutsam. Wie wendet der EGMR die Konvention im Hinblick auf behauptete Verletzungen in materieller Hinsicht an?

 

Art. 8 EMRK – Schutz des Privatlebens 
 
a.) Überblick

Die Praxis zur EMRK anerkennt seit geraumer Zeit, dass sich der Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention unter dem Gesichtspunkt des «Privatlebens» auch auf nachteilige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität erstreckt, welche sich aus Umweltschäden und der Gefahr solcher Schäden ergeben.

Ebenso leitet der EGMR aus Artikel 8 ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit, seines Wohlbefindens und seiner Lebensqualität ab. Das deckt sich im Übrigen mit dem schweizerischen Bundesverfassungsrecht, das zur persönlichen Freiheit auch die körperliche und geistige Unversehrtheit zählt.
 
b.) Unterlassungen

Art. 8 EMRK wird dabei – wie auch verschiedene andere Konventionsrechte – nicht bloss als Abwehrrecht verstanden (Abwehr von staatlichen Handlungen); vielmehr hat der EGMR auch staatliche Unterlassungen als Verletzung der Konvention verstanden (für Art. 2 z.B. bei Nichteingreifen der Behörden bei ehelicher Gewalt).

Auch für den Umweltbereich geht der EGMR davon aus, dass für die Mitgliedstaaten – soweit die Unterlassungen die Konventionsrechte beeinträchtigen können – positive Pflichten zum Schutz der eigenen Bürger bestehen. Ursächlich für den Ausstoss von Treibhausgasen sind denn auch überwiegend nicht die Staaten, sondern vielmehr Private, etwa im Bereich der Landwirtschaft oder der Industrie. Im Falle von behaupteten Unterlassungen beruht die Rechtsverletzung darauf, dass der Mitgliedstaat die positiven Pflichten zum Schutz vor entsprechenden Verletzungen durch Private nicht einhält.

Dabei muss es sich grundsätzlich um eine staatliche Sorgfaltspflichtverletzung handeln, die kausal zur Beeinträchtigung des Konventionsrechts führt. Entsprechende konventionsrelevante staatliche Schutzpflichten zugunsten der Bürgerinnen und Bürger werden im Rahmen von Art. 8 EMRK im Urteil KlimaSeniorinnen nun erstmals für den Bereich der negativen Auswirkungen der Klimaänderung konkretisiert.

Doch welcher Art sind sie und wie lassen sie sich einem Mitgliedstaat zuordnen?
 
c.) Staatliche Zurechenbarkeit?

Sollen Staaten die Bürger durch geeignete Massnahmen vor Gefahren der Klimaänderung schützen, so liegt der Einwand des Klimawandels als globales Phänomen nahe: Inwiefern kann ein einzelner Staat (mit-)verantwortlich sein für die Verletzung der Konvention infolge negativer Auswirkungen der Klimaveränderung?

Ein einzelner Mitgliedstaat trägt zwar zur Erderwärmung bei; aus den in einem einzelnen Konventionsstaat – wie z.B. in der Schweiz – ausgestossenen Treibhausgasen wird indessen nicht allein die das angerufene Menschenrecht beeinträchtigende Gesamterwärmung resultieren. Wie ist also im Bereich der Klimaklagen eine Kausalbeziehung zwischen staatlicher (Schutz-) Pflichtverletzung einerseits und Beeinträchtigung eines Konventionsrechts andererseits rechtlich zu verstehen?

Der EGMR legt der Interpretation der Schutzpflichten von Art. 8 der Konvention – wie bereits zuvor z.B. das niederländische Höchstgericht – das Konzept der Staatenverantwortlichkeit zugrunde. Dieses bestimmt als Grundprinzip die Verantwortung eines jeden Staates individuell – auf der Grundlage seines eigenen Verhaltens – und unter Bezugnahme auf seine eigenen internationalen Verpflichtungen. In gleicher Weise nimmt der EGMR Bezug auf die internationalen Klimaübereinkommen, namentlich die Klimarahmenkonvention und das Abkommen von Paris. Er stellt fest, dass der Klimawandel ein globales Phänomen ist, dem von der Staatengemeinschaft auf globaler Ebene gemeinsam begegnet werden muss. Gestützt auf die Abkommen soll die Eindämmung des Klimawandels so auf der Grundlage einer gemeinsamen Verantwortung, aber nach den jeweiligen unterschiedlichen Fähigkeiten der Staaten erfolgen (Artikel 3 Abs. 1 Klimarahmenkonvention, s. ebenso Art. 2 Abs. 2 des Abkommens von Paris). Man könnte von einer «geteilten Verantwortung» sprechen, die in den nationalen Reduktionsbeiträgen zum Ausdruck kommt: Aus den Zusicherungen der Staaten im Rahmen der Klimaverträge folgt für den EGMR, dass jeder Staat seinen eigenen Anteil an der Verantwortung («its [own] share of the responsibility») hat, Massnahmen zur Bekämpfung der Klimaänderung zu ergreifen.

Denn durch die nationalen Reduktionsbeiträge (NDCs) verpflichten sich die Staaten, in guten Treuen nach den je eigenen Möglichkeiten zum Schutz vor den negativen Auswirkungen des Klimawandels beizutragen. Der EGMR definiert die staatlichen Schutzpflichten im Rahmen der Auslegung von Art. 8 der Konvention also so, dass er sich für die Bestimmung der erforderlichen Sorgfalt auf die Verhaltenspflichten der Staaten im Rahmen der Klimaverträge und die dort zur Erreichung des gemeinsamen Vertragsziels je zugesicherten nationalen Reduktionsbeiträge (NDCs) stützt («the general consensus … in ensuring the overarching goal of effective climate protection … in accordance with the Contracting Parties’ accepted commitments to achieve carbon neutrality», Rz. 543).

So liegt es nicht am EGMR, zu bestimmen, welche Mittel zu ergreifen sind. Umgekehrt beurteilt er aber, ob die gewählten Mittel mit der gebotenen Sorgfalt umgesetzt wurden («it can assess whether the authorities approached the matter with due diligence», Rz. 538e). Insofern kann der EGMR die gebotene Sorgfalt (due diligence) für einen einzelnen Mitgliedstaat auch territorial definieren. Der EGMR hält fest: „Da die Zuständigkeit gemäss Artikel 1 grundsätzlich territorial ist, hat jeder Staat im Rahmen seiner eigenen territorialen Zuständigkeit seine eigenen Verantwortlichkeiten in Bezug auf den Klimawandel“ (Rz. 443).
 
d.) Konkreter Gehalt der Schutzpflichten

Vor diesem Hintergrund lässt sich das Urteil im materiellen Bereich zu Art. 8 EMRK entschlüsseln: Für den EGMR liegt die Verpflichtung des Staates nach Art. 8 darin, seinen Anteil (its [own] share of the responsibility) dazu beizutragen, die Erderwärmung im Rahmen seiner Reduktionszusagen effektiv zu begrenzen und damit den Bürgern Schutz vor negativen Auswirkungen der Klimaveränderung zu gewährleisten.

Aus Sicht des EGMR besteht die Hauptpflicht des Staates wie in anderen Bereichen zunächst darin, (1.) einen Massnahmenkatalog («framework») für die zugesicherten Reduktionsbeiträge zur Erreichung der Klimaziele vorzusehen, der geeignet ist, die bestehenden und potenziell irreversiblen künftigen Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen, und diesen (2.) in der Praxis wirksam anzuwenden. Der Begriff ist aber noch zu weit, um eine konkrete Prüfung vorzunehmen, ob ein Mitgliedstaat seinen Sorgfaltspflichten im Rahmen von Art. 8 EMRK nachkommt.

Für die Subsumtion wird unter dem Gesichtspunkt von Art. 8 EMRK eine konkrete Umschreibung der Schutzpflichten der Staaten nötig. Diese wird vom EGMR nun erstmals für den neuen Rechtsbereich der Klimaschäden entwickelt.

Gestützt auf das Urteil KlimaSeniorinnen lassen sich im Wesentlichen fünf Kriterien herausschälen, die vom EGMR herangezogen werden, um die Erfüllung der positiven Pflicht zur Emissionsbegrenzung im Rahmen von Art. 8 der Konvention zu evaluieren. In Frageform sind diese (s. Urteil KlimaSeniorinnen, Rz. 550):

  1. Sind (für die Umsetzung der zugesicherten Reduktionsbeiträge) generelle Massnahmen zur THG-Emission angeordnet worden und sind sie grundsätzlich auch geeignet?
  2. Sind Zwischenziele und Wege formuliert, um diese zu erreichen?
  3. Gibt es wissenschaftliche Belege, dass der Mitgliedstaat seine Ziele erfüllt hat, z.B.: Kann die Schweiz belegen, dass sie die eigene Verpflichtung der Reduktion von 20 % bis 2020 erreicht hat?
  4. Sind die Reduktionsziele mit der gebotenen Sorgfalt aktualisiert worden?
  5. Ist zeitnah und beständig gehandelt worden?

Der EGMR betont auch, dass dies Gegenstand einer Gesamtbetrachtung sei und die Wege hierzu von Staat zu Staat unterschiedlich sein können, entsprechend seinen internen Politiken und Zuständigkeiten. Hinsichtlich der Mittel, nicht aber hinsichtlich der gesetzten Ziele, bestehe ein weiter Beurteilungsspielraum (margin of appreciacion).
 
e.) Anwendung im konkreten Fall

Angewendet auf den konkreten Fall der KlimaSeniorinnen hiess dies:

Der EGMR stellte gestützt auf die Vorbringen und die Daten fest, dass die Schweiz im damals gültigen CO2-Gesetz eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 20% bis 2020 festgeschrieben habe, der durchschnittliche Reduktionsgrad von 2013 bis 2020 indessen 11% betragen habe. Auch die Regierung anerkannte dies. Später erlassene Regelungen hätten Zwischenziele erst für nach 2031 vorgesehen. Es konnte sodann nicht aufgezeigt worden, dass der Staat rechtzeitig seine Zusagen im Rahmen des Klimaabkommens von Paris wirksam umgesetzt habe; zwar wurden nunmehr Ziele, namentlich auch zur Klimaneutralität gesetzt, (damals) aber keine konkreten Massnahmen vorgesehen. Beanstandet wurde auch, dass es keine etablierte Methode zur quantitativen Bestimmung der Treibhausgasreduktionen des Landes gebe, was die Regierung ebenfalls anerkannte. Der EGMR erachtete die Gesamtsituation zum für die Beurteilung massgeblichen Zeitpunkt als nicht vereinbar mit den Sorgfaltspflichten unter Art. 8 der Konvention, entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten der Staaten zu handeln (to act on the basis of equity and in accordance with their own respective capabilities; Rz. 571, s. Art. 3 Klimarahmenkonvention, Art. 2 des Klimaabkommens von Paris).

Insofern hielt der EGMR fest, die Schweiz habe den ihr für die Umsetzung der zugesagten Beiträge im Rahmen der Klimaverträge zustehenden Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) überschritten. Er stellte eine Verletzung der staatlichen Schutzpflichten zugunsten der Bürgerinnen und Bürger gemäss Art. 8 der Konvention fest.

 

Würdigung / Fazit

Das Urteil betritt Neuland im Rahmen der Auslegung von Art. 8 der EMRK wie auch der Zulässigkeit von Beschwerden, die spezifisch für den Bereich der Klimaklagen für Individuen mit einer hohen Zulassungshürde und für Organisationen mit etwas einfacher erfüllbaren Kriterien entwickelt wird, wobei das qualitative Zulassungskriterium einen erheblichen Ermessensspielraum für die nationalen Behörden zulässt.

Im Zentrum der Auslegung von Art. 8 der Konvention steht die Konturierung der staatlichen Schutzpflichten vor potenziell konventionsrelevanten Schäden. Diese stützen sich auf die nationalen Zusagen im Kontext der Klimaverträge – namentlich des Abkommens von Paris – und werden nun als Verhaltenspflichten im Rahmen von Art. 8 der Konvention justiziabel. Der EGMR legt so eine neue Auslegung von Art. 8 der Konvention vor, auferlegt dem Vertragsstaat aber keine neuen Pflichten, sondern basiert auf deren Verhaltenspflichten (Sorgfaltspflichten; due diligence) im Rahmen der Klimaverträge. Der Einbezug internationaler Verträge zur Bestimmung von Schutzpflichten ist dogmatisch nicht neu, sondern eher schon üblich; man denke etwa an die Anwendung von Art. 2 (Recht auf Leben) im Themenbereich häusliche Gewalt unter Bezugnahme auf die Konvention von Istanbul.

Insofern dringt der EMGR in einen neuen Themenbereich des Umweltrechts vor und führt die im Klimaabkommen von Paris nunmehr explizit postulierte Verbindung zu den Menschenrechten juristisch kausal auf Unterlassungen bei der Beschränkung von Treibhausgasemissionen im einzelnen Mitgliedstaat zurück. Relevant für die Anwendung wird durch die je eigene Verantwortung der einzelnen Staaten nunmehr auch eine kollektive Dimension der Menschenrechte, die sich aus der Spezialität des Bereichs der Klimaschäden ergibt, sowie einer zukunftsgerichteten Ausrichtung aus dem Grund, dass Schäden von Klimaveränderungen später möglicherweise nicht mehr reversibel sind.

Der EGMR gibt den Bürgern für den nationalen Bereich dabei primär das Recht auf wirksame Rechtsbehelfe (Art. 6 EMRK), um nationales Recht vor die Gerichte zu bringen. Insofern schliesst das Urteil auch nicht demokratische Prozesse aus, sondern ist subsidiär zu verstehen, und stärkt zudem die Rechte der Bürgerinnen und Bürger: Der EGMR knüpft an die von den Mitgliedstaaten selbst zugesicherten Reduktionsbeiträge (NDCs) und die gesetzlichen Umsetzungen hiervon an, die der betroffene Staat nun unter den im Urteil entwickelten Voraussetzungen gewährleisten muss. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, dass nationales Recht, soweit es im Rahmen der Konvention relevant ist, einfacher einklagbar wird.

Hinzuweisen ist schliesslich darauf, dass das Urteil mit Blick auf die Verletzung von Art. 6 der Konvention – den fehlenden Zugang zu einem Gericht, um die als verletzt gerügten nationalen Bestimmungen einzuklagen – einstimmig erfolgte. Hinsichtlich der Verletzung von Art. 8 der Konvention erfolgte das Urteil mit 16 zu einer Stimme. In der (in den Medien teilweise viel gelobten) abweichenden Meinung zu Art. 8 wird ebenfalls eine Verletzung begründet, allerdings prozedural, d.h. wegen Verletzung des politisch-partizipativen und informationsrechtlichen Teils der Bestimmung (die Mehrheit hatte keine entsprechende Verletzung festgestellt).

Während dieser prozedural-partizipative Aspekt von Art. 8 EMRK der Schweiz aufgrund der ausgebauten Beteiligungsrechte in der direkten Demokratie kaum vorgeworfen werden kann, ist er dazu geeignet, in anderen Staaten erhebliche Bedeutung zu entfalten.

 

Julia Hänni ist Richterin am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne und Honorarprofessorin für Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen. Sie publiziert regelmässig, unter anderem zum Thema Menschenrechte und Klimawandel. 

 

Zur Vertiefung:

J. Hänni: Essentialia und Leitlinien zum Klimaschutz für die Mitgliedstaaten des Europarats. Verein KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz (EGMR-Urteil, 9. April 2024), Europäische Grundrechte-Zeitschrift; EuGRZ 2024, S. 25 ff.

J. Hänni: Menschenrechtsverletzungen infolge Klimawandels. Voraussetzungen und Herausforderungen, EuGRZ/2019, 1 ff., und in englischer Sprache: J. Hänni, The Prospects of Climate Litigation before the European Court of Human Rights. Prerequisites and Possible Challenges, Human Rights Law Journal, 2021, S. 5 ff.

Print Friendly, PDF & Email