Bundesrichter Andreas Zünd in einem Interview.

Bundesrichter Andreas Zünd in einem Interview mit NZZ-Redaktorin Katharina Fontana.

Auszug:

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Fontana: Warum gilt nicht einfach der jüngste Volksentscheid? Es gibt in der Verfassung ja keine höherwertigen Normen oder Ewigkeitsklauseln, die nicht abgeändert werden könnten.

Zünd: Es stimmt, dass das Volk die Verfassung frei abändern kann. Allerdings, und das ist der springende Punkt, hat es die der Ausschaffungsinitiative widersprechenden Verfassungsnormen nicht aufgehoben. Diese gelten für den Richter damit weiterhin. Das schliesst aber nicht aus, dass das Bundesgericht dem Wunsch nach mehr Härte bei Ausschaffungen so weit als möglich Rechnung tragen wird.

Das Bundesgericht hat in seinem Urteil gesagt, dass es sich – egal, was der Schweizer Verfassungsgeber beschliesst – an die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) halten wird. Das heisst, dass über die Schweizer Verfassung letztlich in Strassburg entschieden wird.

Ja, das kann für Einzelfälle zutreffen. Es ist nun einmal so, dass die Schweiz die EMRK unterzeichnet hat . . .

. . . nur hatte das Stimmvolk nie die Möglichkeit, sich dazu zu äussern. Die EMRK ist verglichen mit der Verfassung demokratisch sehr schwach legitimiert.

Aus heutiger Sicht wäre es sicher besser gewesen, man hätte über den Beitritt abstimmen können. Doch ich bin überzeugt, dass die Schweizer Bevölkerung die EMRK behalten will. Wenn nicht, müsste man sie künden. Sehen Sie: Hätte das Bundesgericht bei der Ausschaffungsinitiative anders entschieden und sich auf den Standpunkt gestellt, es könne die Einhaltung der EMRK nicht mehr prüfen, weil das Volk ihm das untersagt habe, würde Strassburg ein Pilotverfahren gegen die Schweiz eröffnen. Und dann würden alle, schlichtweg alle Beschwerden in diesem Bereich gutgeheissen. Wäre das besser?

(…)

Wie einig ist sich das Bundesgericht bezüglich des EMRK-Vorrangs? Während Ihre Abteilung sozusagen als Erstinstanz von Strassburg agiert, scheinen sich andere Abteilungen im Konfliktfall mehr dem Landesrecht verpflichtet zu fühlen.

Ich kann nicht für alle Bundesrichter sprechen. Man muss sehen, dass die Fälle, wo eine Landesnorm und die EMRK völlig unvereinbar sind und sich das Gericht für die eine oder andere Lösung entscheiden muss, höchst selten sind. Die meisten Probleme kann man auf dem Weg der Auslegung lösen. Wenn ein Konflikt vorliegt, aber mehrere Lösungen denkbar sind, ist es zunächst am Gesetzgeber, die ihm richtig scheinende zu wählen. Am Ende aber sind die menschenrechtlichen Ansprüche einzuhalten. Das muss das Bundesgericht sicherstellen – sonst wird die Schweiz in Strassburg verurteilt, und dies zu Recht.

Das Thema Völkerrecht – Landesrecht ist auch im Parlament präsent. Es gibt Forderungen, das Landesrecht zu stärken. Braucht es neue Regeln?

Als Richter bin ich nicht in der Position, dem Gesetzgeber Ratschläge zu erteilen; das Gericht lebt mit allem. Klar ist aber: Solange die EMRK oder andere Staatsverträge gelten, müssen wir als Bundesrichter sie anwenden. Die Menschen in unserem Lande haben ein Recht darauf.

(…)

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