Von Prof. Dr. iur. Monika Simmler

Der «Beobachter» berichtete im Juni 2022 über die Datensammelwut der Migrationsämter: «Zwei Millionen Fichen, null Kontrolle» lautete die Schlagzeile (Beobachter 13/2022, S. 34 ff.). Die Autor*innen Anina Ritscher und Lukas Tobler schildern den Fall eines Migranten, der Einsicht in sein Dossier verlangte. Es umfasste mehr als 400 Seiten und enthielt teilweise intime Details. Dossiers führen die Migrationsbehörden zu jeder in der Schweiz lebenden ausländischen Person, d.h. zu zwei Millionen Menschen. In den Dossiers wird alles abgelegt, was den Ämtern zur Kenntnis gelangt. Eine «unvorstellbare Datenmenge» komme da zusammen, «ein schier unerschöpflicher Fundus», schreiben die Journalist*innen. Löschungen dieser Akten sind in vielen Kantonen grundsätzlich nicht vorgesehen. Einige Kantone löschen Dossiers immerhin z.B. zehn Jahre nach erfolgter Einbürgerung. Diese kaum begrenzten Datensammlungen können für das Leben von Migrant*innen verschiedene grundrechtlich problematische Implikationen haben. Rechtsstaatlich speziell bedenklich kann es sein, wenn diese Akten Auskunft über Strafurteile geben, die aus dem Strafregister längst entfernt wurden. Als eigentliches «Schattenregister» bedrohen sie das gesetzlich in Art. 369 Abs. 7 StGB verankerte Recht auf Rehabilitierung.

Ausländerrechtliche Verwertung von aus dem Strafregister entfernten Vorstrafen

Der Beobachter schildert im erwähnten Artikel einen Fall, bei dem das Solothurner Verwaltungsgericht den Kantonswechsel einer ausländischen Person mit Verweis auf ein 13 Jahre zurückliegendes Verkehrsdelikt ablehnte. Ausländerrechtlich wurden also aus dem Strafregister entfernte Einträge miteinbezogen. Art. 369 StGB regelt die Entfernung von Einträgen aus dem Strafregister. So ist u.a. vorgesehen, dass bei Jugendstrafen die Einträge – je nach verhängter Strafe – grundsätzlich nach zehn, sieben oder fünf Jahren gelöscht werden. Bei Erwachsenen reichen diese allgemeinen Entfernungsfristen von zehn bis 20 Jahren. Art. 369 Abs. 7 StGB statuiert nun, dass der Strafregistereintrag nach Entfernung nicht mehr rekonstruierbar sein darf, und zwar auf keine Art und Weise (BBl 1999 1979, 2168). Das entfernte Urteil darf dem Betroffenen nicht mehr entgegengehalten werden. Mit Entfernung aus dem Vorstrafenregister sind alle Daten zu vernichten, die auf das Urteil Bezug nehmen (BSK StGB-Arnold/Gruber, Art. 369, N 5 (2019)). Die Strafregisterdaten dürfen auch nicht archiviert werden (Abs. 8). Der Gesetzgeber hat also ein Verwertungs- sowie Archivierverbot festgehalten.

Die Normierung einer Aufbewahrungs- und Entfernungsfrist dient dem Ausgleich zwischen staatlichen Verfolgungs- und Sicherheitsinteressen auf der einen und dem Bedürfnis nach Rehabilitation des/der Straftäter*in auf der anderen Seite (BSK StGB-Arnold/Gruber, Art. 369, N 6 (2019)). Die Schaffung von Art. 369 Abs. 7 StGB ist Ausdruck davon, dass die Rehabilitierungs- und Resozialisierungsinteressen der Betroffenen von Gesetzes wegen schwerer zu gewichten sind als die öffentlichen Informations- und Strafbedürfnisse (BGE 135 IV 87 E. 2.4). Besonders relevant ist das Recht auf Rehabilitierung bei Jugendstrafurteilen. Die grosse Mehrheit jugendlicher Straftäter*innen wird im Erwachsenenalter nicht mehr rückfällig (Bundesamt für Statistik, Jugendstrafurteilsstatistik und Strafurteilsstatistik 1999–2015, 2017). Auf Jugend beschränkte Devianz ist häufig. Umso berechtigter ist es, dass Jugendurteile als «Jugendsünden» irgendwann auch wieder «vergessen» werden.

Die Praxis, entfernte Registereinträge im Ausländerrecht zu berücksichtigen, wird vom Bundesgericht nichtsdestotrotz gestützt, solange nicht ausschliesslich gestützt auf sie verfügt wird (siehe die Verweise in Annotierter Kommentar StGB-Ege, Art. 369, N 6 (2020)). Diese Rechtsprechung wird berechtigterweise kritisiert (siehe z.B. Weissenberger/Hirzel, FS Killias 2013, S. 911 ff., S. 934 ff.). Das Bundesgericht begründet die Aushöhlung des Verwertungsverbots damit, dass der Gesetzgeber, soweit dies aus den Materialien ersichtlich sei, nur strafrechtlich überlegt habe (BSK StGB-Arnold/Gruber, Art. 369, N 11 (2019)). Diese Argumentation ist wenig überzeugend. Die Ratio legis des Art. 369 Abs. 7 StGB ist es, Verurteilten nach Ablauf einer Frist zu erlauben, wieder so behandelt zu werden, als wären sie vorstrafenlos. Eine Verwertung in verwaltungsrechtlichen Verfahren untergräbt diesen Gedanken.

Verwertung von entfernten Urteilen mittels Beizug von Migrationsakten

Gemäss Bundesgericht dürfen für migrationsrechtliche Belange also Informationen über Strafverfahren einbezogen werden, obwohl diese strafprozessrechtlich längst einem Verwertungsverbot unterliegen würden. Damit ist allerdings nicht der einzig rechtsstaatlich heikle Aspekt angesprochen, der mit den üppigen Datenakkumulationen der Migrationsämter einhergeht. Ebenso können nämlich Informationen, die aus dem Strafregister entfernt wurden, ihren Weg wieder zurück in (neue) Strafverfahren finden – und zwar via Aktenbeizug gemäss Art. 194 StPO.

Staatsanwaltschaften und Gerichte ziehen gemäss Art. 194 StPO Akten anderer Verfahren bei, wenn dies für den Nachweis des Sachverhalts oder die Beurteilung der beschuldigten Person erforderlich ist. Migrationsbehörden des Wohnsitzkantons der ausländischen Person werden in der Schweiz routinemässig um Auskünfte ersucht (Ruckstuhl, plädoyer 2016, S. 112 ff., S. 121). Es handelt sich dabei um eine erfolgsversprechende Methode, an (viele) Informationen zu gelangen. Ein solcher Aktenbeizug ist nicht per se illegitim. Die Strafbehörden erlangen dank ihm aber Unterlagen über alle abgeschlossenen Strafverfahren und verhängten Strafurteile. Auch wenn die Urteile Jahrzehnte und bis in die Jugend zurückreichen, auch wenn sie längst aus dem Strafregister gelöscht wurden: Die Strafbehörden wissen dank dem Aktenbeizug nun (wieder) von ihnen.

Undifferenzierte Aktenherausgabe ist ungesetzlich

Staatsanwält*innen oder Richter*innen, die in den Migrationsakten von vergangenen Strafurteilen lesen, werden das nicht mehr vergessen. Das Verwertungsverbot gilt natürlich dennoch. Entfernte Vorstrafen dürfen u.a. weder bei der Strafzumessung noch bei der Prüfung strafprozessualer Haftgründe berücksichtigt werden (BSK StGB-Arnold/Gruber, Art. 369, N 7 (2019)). Es sei den Behördenvertreter*innen nicht unterstellt, dass sie sich nicht bemühen würden, die entfernten Urteile auszublenden. Es ist aber klar, dass dies faktisch nicht gelingen kann (Weissenberger/Hirzel, FS Killias 2013, S. 911 ff., S. 938). Wer es weiss, weiss es. Deshalb wäre im Sinne von Art. 369 StGB anzustreben, dass entfernte Vorstrafen, wenn möglich, gar nicht erst zur Kenntnis gelangen.

Im Beobachter-Artikel wird ein Vertreter des Bündner Migrationsamts zitiert. Er hält fest, dass begründete Gesuche um Auskünfte der Strafverfolgungsbehörden nicht abgelehnt werden (Beobachter 13/2022, S. 35). Dies dürfte der verbreiteten Praxis entsprechen: Wird in einem laufenden Strafverfahren um Aktenherausgabe ersucht, wird diesem Ersuchen immer stattgegeben. Herausgeben wird diesfalls das gesamte bei den Migrationsbehörden vorhandene Dossier. Eine Triage findet nicht statt. Es wäre kaum opportun zu fordern, dass alle Behörden – also auch Migrationsämter – standardmässig nach Ablauf der in Art. 369 StGB vorgesehenen Fristen ihre gesamten Akten durchkämmen und für alle Dossiers jegliche Hinweise auf entsprechende Vorstrafen entfernen. Allerdings ist es als kritisch zu werten, dass Migrationsämter nicht nur für ihre eigenen Datensammlungen offenbar wenig Restriktionen kennen, sondern dass die in Art. 194 StPO verlangte Interessensabwägung bei der Aktenherausgabe die Vorgabe von Art. 369 StGB nicht angemessen berücksichtigt. Entfernte Vorstrafen dürfen Täter*innen nicht mehr vorgehalten werden. Dies müsste einer uneingeschränkten Herausgabe aller Migrationsakten entgegenstehen.

Art. 194 Abs. 2 StPO hält fest, dass Behörden ihre Akten zur Verfügung stellen, wenn der Herausgabe keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Geheimhaltungsinteressen entgegenstehen. Verantwortlich für die Vornahme der Interessensabwägung sind die angefragten Behörden (Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. A., S. 329). Ein privates Geheimhaltungsinteresse besteht, wenn die Bekanntgabe eines Geheimnisses für die betroffene Person nachteilig sein kann, was bei vergangenen Strafverfahrensakten wohl stets zu bejahen ist (BSK StPO-Bürgisser, Art. 194, N 11 (2014)). Wenn aus dem Strafregister entfernte Urteile nun dazu führen müssten, dass die Migrationsakten als Ganzes nicht herausgegeben werden, wäre das unverhältnismässig. Das Verhältnismässigkeitsprinzip würde allerdings gleichzeitig verlangen, dass die Migrationsbehörden bei der Herausgabe sicherzustellen versuchen, dass diejenigen Akten nicht offengelegt werden, welche Rückschlüsse auf entfernte Strafurteile zulassen. Eine unkritische und undifferenzierte vollständige Offenlegung ist mit dem Gesetz nicht vereinbar.

Pflicht zur Triage und zum Vergessen

Gefragt wäre eine Vorprüfung, d.h. eine Triage durch die Migrationsbehörden im Vorfeld der Aktenherausgabe. Eine solche dem Zweck der Achtung von Verwertungsverboten dienende Triage kennt man in der strafprozessualen Praxis z.B. auch bei der Siegelung. Dieser Aufwand ist zu rechtfertigen und angesichts der Vorgaben von Art. 194 Abs. 2 StPO und Art. 369 Abs. 7 und 8 StGB gesetzlich begründet. Das strafprozessrechtliche Problem mit dem Beizug der (umfangreichen) Migrationsakten ist darin zu erblicken, dass in der Praxis meist ohne weitere Prüfung die gesamten Akten herausgegeben werden. Im Sinne der Interessensabwägung wären Migrationsbehörden zu verpflichten, aus dem Strafregister entfernte Urteile im Falle eines Beizugs auch aus ihren Akten zu entfernen respektive auf eine Teilherausgabe zu erkennen. Das faktisch geführte «Schattenregister» bei den Migrationsbehörden könnte so nicht mehr zu einer Umgehung des Verwertungsverbots führen.

Die Ratio legis von Art. 369 StGB verlangt eine vollständige Rehabilitierung ehemaliger Straftäter*innen. Diese hat insbesondere für die Resozialisierung eine wichtige Bedeutung. Das Recht auf Vergessen ist ernst zu nehmen und rechtsstaatlich sicherzustellen. Die «Sammelwut» der Migrationsbehörden wird so schnell keinen Abbruch nehmen. Die Behörden wären aber verpflichtet, den gesetzlich verankerten Rehabiliterungsgedanken zu achten. Eine differenziertere Aktenherausgabe könnte diesem Zweck dienen. Bis dahin sind Staatsanwält*innen und Richter*innen aufgefordert, ihrer Pflicht zum Vergessen bestmöglich nachzukommen.

 

Zur Autorin:

Monika Simmler, Dr. iur., ist Assistenzprofessorin und Co-Direktorin am Kompetenzzentrum für Strafrecht und Kriminologie der Universität St. Gallen.

 

* Bild: Jean Ruaud, flickr, Lizenz CC BY-NC-ND 2.0.


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