Überlegungen nach der Abstraf-Aktion gegen die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts.

 Am 24. September 2014 führte die Vereinigte Bundesversammlung die Gesamterneuerungswahl des Bundesgerichts durch. Gerold Steinmann schreibt dazu im Editorial des Schweizerischen Zentralblattes für Staats- und Verwaltungsrecht, 116,Nr. 1, S.1 f., unter dem Titel „Denk-würdige Wiederwahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter.

Auszug:

„(…)Die grosse Mehrheit der Wiedergewählten erhielt zwischen 222 und 204 Stimmen. Klar zurück lieben zwei Mitglieder mit 198 bzw. 190 Stimmen und vier Mitglieder mit Stimmen zwischen 167 und 159. Alle diese sechs am Schluss ‚rangierten‘ Richterinnen und Richter gehören ein und derselben Abteilung an; sie bilden zusammen die II. öffentlich-rechtliche Abteilung.

Dieses Wahlresultat lässt sich nicht anders denn als ‚Denkzettel‘ erklären. (…) Das Streichen der sechs Magistratspersonen auf dem Wahlzettel der Vereinigten Bundesversammlung durch eine beachtliche Zahl von Mitgliedern stellt offensichtlich eine Missbilligung der Rechtsprechung der Abteilung auf einem bestimmten Sachgebiet oder in gewissen Einzelfällen dar. Das Vorgehen kommt einer eigentlichen Abstrafung der Richterinnen und Richter der Abteilung gleich.

Diese Form der Kritik an der Rechtsprechung einer Abteilung des Bundesgerichts lässt sich mit der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nicht vereinbaren. Art. 191c BV bestimmt, dass die richterlichen Behörden in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit unabhängig und nur dem Recht verpflichtet sind. (…)

(…)  Die Erneuerungswahl darf nicht dazu missbraucht werden, Einfluss auf die Rechtsprechung auszuüben, indem Magistratspersonen im Laufe der Amtszeit mit Blick auf die Bestätigungswahl ‚Denkzettel‘ angedroht werden oder diese wegen missbilligter Urteile gar zu einem ‚freiwilligen‘ Rücktritt angehalten werden. ‚Wahltag ist Zahltag‘ gilt bei Richterwahlen nicht.

Die Eidgenössischen Räte verfügen über andere Handlungsmöglichkeiten als die Abstrafung von Richtern und Richterinnen oder ganzer Abteilungen. (…)

Die Erneuerungswahl vom letzten Herbst gibt zu grundsätzlichen Überlegungen zur heutigen Ordnung Anlass – ungeachtet des Umstands, dass alle Magistratspersonen in ihrem Amt bestätigt worden sind. (…) Diese Regelung wird in neuester Zeit vermehrt in Frage gestellt und eine Neuordnung gefordert, die die Unabhängigkeit der Justiz stärken soll. Im Vordergrund stehen einerseits längere Amtsperioden, etwa von zehn oder neun Jahren wie im Kanton Tessin oder beim EGMR in Strassburg, mit oder ohne Wiederwahlmöglichkeit. Anderseits wird eine Wahl auf unbestimmte Zeit befürwortet, mit der Möglichkeit einer Abberufung aufgrund eines gesetzlichen geordneten, fairen und offenen Verfahrens; der Kanton Freiburg kennt eine solche Ordnung. Diese ermöglicht eine optimale Garantie der Unabhängigkeit der Justiz.

Die Unabhängigkeit der Justiz ist  eine zentrale Forderung im gewaltenteiligen Rechtsstaat. Sie ist  indessen eine fragile Pflanze, die sich, einmal verletzt, nur schwer erholt. Die sog. Dritte Gewalt hat nur wenige Möglichkeiten, ihre Unabhängigkeit selber zu verteidigen. Umso bedeutsamer ist es, dass auf längere Sicht ein Systemwechsel geprüft wird. Vorderhand sind die Eidgenössischen Räte unter dem heutigen Regime gehalten, bei den Erneuerungswahlen die Unabhängigkeit der Justiz zu achten und dabei auch die Handlungsgrundsätze der Gerichtskommission mitzuberücksichtigen.“

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