Der Schutz der Menschenrechte darf nicht geschwächt werden

Von Dr. iur. Ulrich Gut, Präsident von UNSER RECHT, unter Mitwirkung des Vorstands

 

Die Debatten über das KlimaSeniorinnen-Urteil sind durch Empörung getrieben, anderseits nehmen aber fast alle Empörten – ausser der SVP – für sich in Anspruch, den Wert der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für die Menschen in der Schweiz und in ganz Europa hochzuachten. Nach ihrer Meinung war es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), welcher der Akzeptanz der EMRK Schaden zugefügt habe durch Überschreitung seiner Kompetenzen, Überdehnung der richterlichen Rechtsfortbildung.

Die Gutheissung der Klage der Schweizer KlimaSeniorinnen wird auch in Kreisen kritisiert, die der EMRK und dem gerichtlichen Menschenrechtsschutz in Europa eindeutig positiv gegenüberstehen. Beanstandet wird insbesondere, dass der EGMR den Einzelpersonen, die Hitzeschäden erleiden könnten, die Klagelegitimation abgesprochen, diese hingegen einem Verein zugesprochen und damit eine Tür zu einem in der EMRK nicht vorgesehenen Verbandsbeschwerderecht geöffnet habe.

 

Die Entwicklung der Rechtsprechung zu Artikel 8 EMRK war bekannt

Die Ableitung eines menschenrechtlichen Anspruchs auf Gesundheitsschutz aus Artikel 8 EMRK kam nicht überraschend. Bundesrichterin Prof. Dr. Julia Hänni stellt hierzu in ihrer bei UNSER RECHT veröffentlichten Urteilsanalyse fest:

«Die Praxis zur EMRK anerkennt seit geraumer Zeit, dass sich der Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention unter dem Gesichtspunkt des «Privatlebens» auch auf nachteilige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit, das Wohlbefinden und die Lebensqualität erstreckt, welche sich aus Umweltschäden und der Gefahr solcher Schäden ergeben.

Ebenso leitet der EGMR aus Artikel 8 ein Recht des Einzelnen auf wirksamen Schutz durch die staatlichen Behörden vor schwerwiegenden Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit, seines Wohlbefindens und seiner Lebensqualität ab. Das deckt sich im Übrigen mit dem schweizerischen Bundesverfassungsrecht, das zur persönlichen Freiheit auch die körperliche und geistige Unversehrtheit zählt.»

 

Maya Hertig, ordentliche Professorin am Departement für öffentliches Recht der Universität Genf, erläuterte das Urteil in einem SRF-Interview wie folgt (Auszug):

«Die Menschenrechte sind ziemlich offen formuliert und müssen sich neuen Gefahren anpassen können. Sie müssen relevant bleiben, wenn sich der Kontext ändert. Das ist zum Beispiel mit der Klimapolitik der Fall. (…)

Es gibt nicht ein Menschenrecht auf Klimaschutz. Der Ansatz geht immer vom Individuum aus und sagt, dass die Klimaerwärmung und die Umweltverschmutzung einen Einfluss auf das Recht auf Leben, auf die Gesundheit, auf das Wohlbefinden haben kann. Man schützt das Klima nicht wegen des Klimas, sondern weil gravierende Konsequenzen auf die Menschenrechte festzustellen sind. (…)

Wenn man das Urteil liest, dann sagt der Gerichtshof klar, dass das Urteil sowohl politische als auch rechtliche Aspekte hat. Der Gerichtshof muss den Staaten auch genügend Ermessensspielraum einräumen. Man trägt dem Umstand Rechnung, dass Europa sehr divers ist. Aber gleichzeitig haben die Staaten auch Verpflichtungen. Sie haben die primäre Verantwortung, die Rechte der EMRK zu schützen.»

Auf die Erklärung angesprochen, antwortet Maya Hertig:

«Ich finde, gerade ein Staat wie die Schweiz, der einen guten Menschenrechtsstandard hat und als Demokratie anerkannt ist, sollte nicht solche Signale aussenden. Ich finde es aus der Perspektive der Rechtsstaatlichkeit bedenklich. Die EMRK ist ein gesamteuropäisches Projekt. Es geht darum, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf dem europäischen Kontinent zu sichern. Und die Urteile sind verbindlich.»

 

Die Regierungen der Konventionsstaaten wussten um diese Entwicklung der Rechtsprechung zu Artikel 8 EMRK. Das Ministerkomitee des Europarates – bestehend aus den Aussenministerinnen und Aussenministern der Mitgliedsstaaten, respektive deren Delegierten, d.h. den Botschafterinnen und Botschaftern vor Ort – überwacht die Umsetzung der Urteile des EGMR. Deshalb bekommt es jedes Urteil zur Kenntnis. Sollte es den Eindruck gehabt haben, der Gerichtshof überdehne seine Kompetenz zur Rechtsfortentwicklung, hätte es sich damit befassen können, insbesondere durch Prüfung, ob die EMRK eines weiteren Zusatzprotokolls bedürfe. Es trifft zu, dass Zusatzprotokolle, also materielle Änderungen der EMRK, nur einstimmig erlassen werden können. Aber ein Teil der Kritikerinnen und Kritiker ist offenbar der Meinung, jetzt wäre es möglich, Einstimmigkeit zu erzielen. Ständerat Andrea Caroni (FDP-Liberale, AR) hat hierfür eine Motion eingereicht.

 

Ein Schlag gegen den Vorrang des Rechts vor der Politik?

Was ist unter diesen Voraussetzungen von der Erklärung zu halten, die der Ständerat am 5. Juni 2024 verabschiedet hat, und über die der Nationalrat am 12. Juni befinden wird? René Rhinow, ehemaliger FDP-Ständerat des Kantons Basel-Landschaft und emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Basel, äusserte sich in den CH-Media-Zeitungen vom 6. Juni so:

«Die Erklärung des Ständerats ist rechtsstaatlich problematisch, aussenpolitisch dumm und steht inhaltlich auf wackeligen Beinen.» Zwar zieht auch Rhinow das Urteil des EGMR in Zweifel: Dieses gehe in seiner Auslegung sehr weit. «Dennoch gibt es keinen Anlass, dem EGMR die demokratische Legitimation abzusprechen.»

 

Und Jörg Paul Müller, emeritierter Professor für Staatsrecht der Universität Bern und Autor eines Standardwerks über die Grundrechte, schrieb in einem Gastbeitrag in der NZZ vom 3. Juni:

«(…) Eine Erklärung der Parlamentskammern, dem neuen Urteil sei nicht Folge zu leisten, wäre ein unverzeihlicher Verstoss gegen von der Schweiz anerkanntes Recht und damit ein Schlag gegen das Prinzip des Vorrangs des Rechts vor Politik. Selbstverständlich ist Kritik an der Rechtsprechung jedes Gerichts nicht nur erlaubt, sondern von einem demokratischen Gesichtspunkt aus auch erwünscht. Die Auseinandersetzung darf aber nicht durch Ablehnung des Geltungsanspruchs des Urteils bestehen, was eine klare Verletzung eingegangener Verpflichtungen bedeuten würde.»

 

Ständerat lehnt explizite Klärung, das Urteil nicht ignorieren zu wollen, ab

Im Ständerat reichten Andrea Gmür-Schönenberger (Mittepartei, LU) und Matthias Michel (FDP-Liberale, ZG), je eine alternative Erklärung ein, die klar zum Ausdruck gebracht hätte, dass die Schweiz dieses Urteil des EGMR nicht «ignorieren» wolle. Ständerätin Gmür-Schönenberger zog ihren Antrag sodann zugunsten des Antrags Michel zurück.

Aus dem Votum Ständerat Michels:

«Der Passus “keine weitere Folge zu geben” wird weitherum falsch verstanden. Selbst die meist sachlich beobachtende “NZZ” titelt “Ständeratskommission fordert den Bundesrat auf, das Klima-Urteil des EGMR zu ignorieren”. Das titelt die “NZZ” und x andere auch, und darauf folgt im selben Blatt gleich die Kritik eines anerkannten Staatsrechtlers, Professor Jörg Paul Müller, dass die Nichtbeachtung oder die Ignoranz des Urteils einen Rechtsbruch bedeuten würde. (…) Meisseln wir unsere kritische Analyse also nicht in Form einer reaktionären Stellungnahme zu einem überschiessenden Urteil in unsere Geschichtsbücher. Nur weil das Urteil überschiessend ist, sollten wir selbst nicht überschiessen. Bleiben wir als Rechtsstaat glaubwürdig, und stärken wir damit unsere Position.»

Nachdem Ständerat Daniel Jositsch (SP, ZH), Präsident der antragstellenden Rechtskommission, betont hatte, auch der Kommissionsantrag verlange nicht, das Urteil zu ignorieren, sondern bestehe darauf, dass es schon umgesetzt sei, beharrte der Rat beharrte auf der Formulierung, die weitherum als Ignorieren verstanden wurde, und lehnte den Antrag Matthias Michels mit 26 zu 17 Stimmen ab. (Amtliches Bulletin)

Es wird sich zeigen, ob die Beteuerungen, die Stellungnahme verlange nicht das Ignorieren des Urteils, überzeugen. Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer sagte nach der Ständeratsdebatte, es sei klar zum Ausdruck gekommen, man wolle dieses Urteil nicht befolgen. (SRF-Sendung «10 vor 10)

Wenn aber angenommen wird, dass die Mehrheit des Ständerates das Urteil nicht ignorieren wolle, rückt die Frage in den Vordergrund, welche konkreten Handlungspflichten die Schweiz träfen, damit das Urteil umgesetzt sei, und ob sie diese tatsächlich bereits erfüllt habe. Die KlimaSeniorinnen selbst sind nicht dieser Ansicht. Ihre Anwältin hat eine Zusammenfassung des Urteils publiziert, aus der sich ergibt, wo sie noch Handlungspflichten für die Schweiz ortet.

Im Nationalrat kann keine alternative Stellungnahme abgegeben werden. Die Ratsmitglieder können nur über den Antrag ihrer Kommission für Rechtsfragen entscheiden, der gleich lautet wie die Stellungnahme des Ständerates, also ebenso dem Missverständnis ausgesetzt ist, die Schweiz wolle gegen das Urteil nicht nur protestieren und nicht nur auf die künftige Rechtsprechung Einfluss nehmen, sondern das Urteil ignorieren.

 

Der Bundesrat handelt in eigener Verantwortung

Mit der Stellungnahme wird der Bundesrat aufgefordert, sich gegenüber dem Europarat in diesem Sinne zu äussern und auf eine Änderung der künftigen Rechtsprechung einzuwirken. Bisher wurde vor allem darauf hingewiesen, dass die Erklärung die Gewaltenteilung im Verhältnis zum EGMR tangiert. Sie tangiert aber auch die Gewaltenteilung zwischen Bundesrat und Parlament. Der Bundesrat bzw. die Bundesverwaltung ist in erster Linie zuständig, Gerichtsurteile auszuwerten und allfälligen gesetzgeberischen und/oder „aussenpolitischen“ Handlungsbedarf auszuloten. Die Erklärung ist zwar unverbindlich (mehr dazu hier), sie könnte aber diesen Spielraum dennoch faktisch einschränken. Möchte das Parlament auf die Arbeit des Bundesrates Einfluss nehmen, stehen ihm seine ordentlichen (den Bundesrat – im Unterschied zur Erklärung – bindenden) Instrumente zur Verfügung.

Der Bundesrat wird in Kenntnis der Erklärung, aber selbständig und in eigener Verantwortung, abklären und entscheiden müssen, welcher Handlungsbedarf besteht, welches Vorgehen zielführend, angemessen und für einen Mitgliedstaat des Europarats verantwortbar ist. Zuständig dafür sind das Justiz- und Polizeidepartement von Bundesrat Beat Jans, dessen Bundesamt für Justiz das Urteil analysiert, sowie das Departement für auswärtige Angelegenheiten von Bundesrat Ignazio Cassis, der die Schweiz im Ministerkomitee des Europarats vertritt.

UNSER RECHT hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2007 kontinuierlich für die Geltung der EMRK und die Verbindlichkeit der Rechtsprechung des EGMR eingesetzt. Deshalb hat es sich 2018 stark für die Ablehnung der SVP-Initiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» eingesetzt, die denn auch mit 66 % Volks-Nein und 100 % Stände-Nein verworfen wurde. Stellvertretend für zahlreiche damalige Stellungnahmen von UNSER RECHT hier ein Beispiel.

 

Volk und Stände kennen den Wert des europäischen Menschenrechtsschutzes

Volk und Stände waren und sind sich bewusst, wie wertvoll es für jede und jeden von uns ist, dass die Menschenrechte in Europa durch die EMRK und ihren Gerichtshof geschützt sind. Sie sind sich auch bewusst, dass unser Bundesgericht gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung nur diejenigen Grundrechte vor grundrechtswidrigen Gesetzen schützen darf, die auch in der EMRK verankert sind, denn die Schweiz hat keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Und sie sind sich bewusst, dass ein Europa, in dem die Menschenrechte gelten, einem Kleinstaat auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen mehr Sicherheit gewährt als ein Umfeld von Staaten, in denen Willkür herrscht.

Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Erklärung, die infolge dieses Urteils abgegeben wird, und die Schritte, die der Bundesrat unternehmen wird, die Geltung der Menschenrechte in der Schweiz und in Europa nicht schwächen.

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