“Die derzeit diskutierte Teilrevision der Strafprozessordnung vergrössert das bereits bestehende Machtgefälle zwischen Strafverfolgung und Verteidigung – dies ohne sachliche Notwendigkeit.”

Dagegen wenden sich Daniel Maritz, Präsident des Zürcher Anwaltsverbands, und Lionel Halpérin, Alt-Präsident des Genfer Anwaltsverbands, in der NZZ unter dem Titel “Mogelpackung Revision der Strafprozessordnung” (Link zum Artikel, erschienen am 17.6.2020).

Auszug:

“(…) Die gravierendste Änderung des Revisionsprojektes betrifft das Teilnahmerecht. Heute haben die beschuldigte Person und ihre Verteidigung praktisch während des ganzen Untersuchungsverfahrens das Recht, an Beweiserhebungen teilzunehmen. Eine beschuldigte Person darf bei Befragungen von Mitbeschuldigten oder Zeugen anwesend sein und sich allfällige Belastungen im Originalton anhören. Sie kann bereits früh im Verfahren Ergänzungsfragen an andere involvierte Personen stellen, und zwar unabhängig von ihrem eigenen Aussageverhalten.

Strafverteidiger und Strafverteidigerinnen haben jahrelang für dieses Teilnahmerecht gekämpft, nicht nur für dessen Einführung, sondern seit 2011 auch für dessen konsequente Anwendung. Sollte der Entwurf tatsächlich Gesetz werden, wird zukünftig nur noch diejenige beschuldigte Person an Beweiserhebungen dabei sein dürfen, die sich zum Gegenstand der Einvernahme «einlässlich» geäussert hat. Was unter einer einlässlichen Äusserung gemeint ist, erläutert die Botschaft nicht. (…)

Der Gesetzesentwurf liegt nun beim Parlament. Es bleibt zu hoffen, dass die Räte erkennen, dass mit der vorgeschlagenen Neuregelung der Teilnahmerechte nicht nur die 2011 bewusst gestärkten Verteidigungsrechte geschwächt würden, sondern insbesondere auch das Aussageverweigerungsrecht als elementarstes Verteidigungsrecht im Kern ausgehöhlt würde. Als Strafverteidiger würde man dadurch vor die unlösbare Aufgabe gestellt, wie man eine beschuldigte Person trotzdem sorgfältig und gewissenhaft beraten soll.

 

Nicht nur als Strafverteidiger oder Strafverteidigerin sollte einem der Kurs der aktuellen Revision Sorgen bereiten. Das Strafprozessrecht betrifft uns alle. Jeder kann in ein Strafverfahren involviert werden (als beschuldigte Person oder als Geschädigter). Spätestens dann wird sich jeder Betroffene wünschen, dass das Verfahren nach klaren und fairen Regeln abläuft. Die aktuelle Teilrevision hat leider einen gegenteiligen Kurs. Sie wirkt darauf hin, das ohnehin schon bestehende Machtgefälle zwischen Strafverfolgung und Verteidigung ohne sachliche Notwendigkeit weiter zu vergrössern. Der Qualität des Strafprozesses und der Akzeptanz der Justiz in der Öffentlichkeit wäre dies in hohem Masse abträglich.”

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