Dieser Artikel des Präsidenten des Vereins “Unser Recht” entstand an der Jahreskonferenz von Alzheimer Europe vom 31.10.-2.11.2016 in Kopenhagen, an der er als Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz teilnahm. Im zweitletzten Abschnitt wird der Zusammenhang mit der Stakeholderstrategie gegen die Anti-Menschenrechte-Initiative (“Schweizer Recht statt fremde Richter”, “Selbstbestimmungsinitiative”) der SVP aufgezeigt.

Menschen mit Demenz sollen menschenwürdig leben können und in der Gemeinschaft integriert bleiben. Sie sollen gegen Übergriffe aller Art geschützt werden. Und sie haben Anspruch auf Beachtung ihres Willens, ob sie diesen nun verbal oder nonverbal ausdrücken.

Diese Grundsätze und die zahlreichen konkreten Forderungen, die sich daraus ergeben, sollen nicht mehr nur durch Demenzstrategien, Demenzpläne und einzelne politische Beschlüsse umgesetzt, sondern als Rechtsansprüche anerkannt werden. Dies wurde an der Jahreskonferenz von Alzheimer Europe, die vom 31. Oktober bis 2. November in Kopenhagen stattfand, bekräftigt.

Solche Rechtsansprüche werden aus internationalen Verträgen abgeleitet. Im Vordergrund stehen das UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention, CRPD) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Schweiz ist beiden Konventionen beigetreten, wobei sie allerdings das Zusatzprotokoll zur CRPD, das ein Beschwerderecht für Einzelpersonen enthält, nicht unterzeichnete.

Dazu kommen Bestrebungen in einzelnen Staaten, Rechte der Menschen mit Demenz neu zu verankern. So verfasste die irische Alzheimervereinigung nach Inkrafttreten der nationalen Demenzstrategie eine Charta der Rechte für Menschen mit Demenz (A Charter of Rights for People with Dementia). Die Charter wird nun in den politischen Prozess eingebracht. Sie ist in die Abschnitte Participation, Accountability, Empowerment, Legality gegliedert:

Die Rechte der EMRK sind einklagbar und durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg geschützt. Dessen Trägerschaft ist der Europarat, dem auch die Schweiz angehört. Die Schweiz hat sich verpflichtet, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg in jedem Einzelfall umzusetzen. Die EMRK garantiert Freiheits- und Abwehrrechte und korrekte Rechtsverfahren. Leistungsansprüche aus ihr abzuleiten, ist, wenn überhaupt, nur in begrenztem Umfang möglich. So geben die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit einen minimalen Anspruch darauf, dass der Staat einen Menschen nicht verhungern und verelenden lässt, und das Recht auf Privatsphäre und Familienleben kann Bedeutung erlangen für das Leben in Heimen und anderen Institutionen. Aber zur Sicherung weitergehender Ansprüche erliess der Europarat die Europäische Sozialcharta, der die Schweiz nicht beitrat. Die EMRK schützt deshalb, vereinfacht gesagt, Menschen mit Demenz vor allem vor Übergriffen und unkorrekten Verfahren.

Die Dachorganisationen Alzheimer’s Disease International (ADI), Alzheimer Europe (AE), Dementia Alliance International und European Working Group of People with Dementia  setzen sich deshalb stark dafür ein, dass die Ansprüche der Menschen mit Demenz unter Berufung auf die CRPD eingefordert werden. Diese gibt Ansprüche auf Leistungen und Partizipationsrechte. Allerdings können sie nicht vor Gericht durchgesetzt werden. Es obliegt einem UNO-Ausschuss, in einem Berichts- und Rückfrage-Verfahrens zu prüfen, ob die Staaten die Konvention einhalten. Die Schweiz lässt, wie erwähnt, die Individualbeschwerde nicht zu. Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass demokratische Rechtsstaaten eine solche Konvention auch tatsächlich umsetzen wollen, sodass mit den Rechten, die die UNO-Behindertenrechtekonvention garantiert, durchaus wirksam argumentiert werden kann.

Für die internationalen Organisationen, die sich für die Menschen mit Demenz einsetzen, ist es heute selbstverständlich, dass Demenzkrankheiten als Behinderungen anzuerkennen sind, sodass die Menschen mit Demenz unter dem Schutz der Konvention stehen. Allerdings ist dies noch nicht in allen Staaten anerkannt, und ADI-Rechtsberater Prof. Peter Mittler appellierte in Kopenhagen eindringlich an den CRPD-Ausschuss, die Anerkennung in allen Konventionsstaaten durchzusetzen.

Man mag philosophische Bedenken dagegen haben, einen Menschen mit Demenz als Behinderten zu bezeichnen. Aus einer pragmatisch-juristischen Sicht drängt es sich aber auf, sich auf die Rechte zu berufen, die diese Konvention gewährt.

Bei aller Zustimmung zur rechtlichen Durchsetzung der  Forderungen nach einem besseren, selbständigeren Leben mit Demenz gilt es daran zu denken, dass die Gestaltungskraft des Rechts in allen Gesellschaften beschränkt ist: Recht ist auf die Dauer nur so stark wie der politische Wille, durch den es gewollt, geschaffen und hochgehalten wird. Deshalb müssen in der Schweiz aktuell die EMRK und andere völkerrechtliche Verpflichtungen gegen eine Volksinitiative mit dem verfänglichen Titel «Schweizer Recht statt fremde Richter» verteidigt werden. Für die Schweiz, die dem Europarat angehört, gleichberechtigt eine Richterin des EGMR stellt und über Revisionen der Rechtsgrundlagen mitentscheidet, aufgund deren er urteilt, ist “Strassburg” kein “fremdes”, sondern ein gemeinsames Gericht: Eine Errungenschaft für einen Menschenrechtsraum Europa.

Dafür, dass die Menschenrechte weiterhin durch ein gemeinsames europäisches Gericht geschützt werden, und somit auch dafür, dass die Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen “rights-based” besser gestellt werden, dass ihre Rechte geschützt werden und dass sie neue Rechte bekommen, braucht es den Willen einer Mehrheit der Bevölkerung. Diesen Willen zu bilden und zu stärken, erfordert Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung: Eine Hauptaufgabe auch von Alzheimer Schweiz.

Ulrich Gut.

 

 

 

 

 

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