Auszug aus dem Rechtsgutachten von Prof. Christine Kaufmann, erstellt für den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse (S. 29 ff.). Link zum Gutachten. Der Auszug enthält keine Fussnoten.

“Auftragsgemäss werden nachfolgend einige ausgewählte Garantien der EMRK, die für wirtschaftliche Akteure von besonderer Bedeutung sind, im Hinblick auf eine Annahme der Selbstbestimmungsinitiative skizziert. Die SBI zielt insbesondere auf die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK ab, da diese in einem Spannungsverhältnis zu menschenrechtlich problematischen Volksinitiativen stehen kann.Die Initianten führen denn auch aus, dass sie die Kündigung der EMRK im Konfliktfall bewusst in Kauf nehmen.

Für die Wirtschaft ist die EMRK vor allem insofern von Bedeutung, als auch Unternehmen Träger einzelner Konventionsrechte sind
und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR Beschwerde führen können. Gemäss der Rechtsprechung des EGMR können sich juristische Personen auf die  Konventionsrechte berufen, wenn diese ihrer Natur nach auch für
juristische Personen relevant sind. Besonders die  Verfahrensgarantien (Art.6 und 13 EMRK), die Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und in jüngster Zeit zunehmend der Schutz von Privatsphäre und Daten (Art. 8 EMRK) spielen für Unternehmen eine grosse Rolle.
Im Fall Hertel gegen die Schweiz ging es ebenfalls um die Meinungsfreiheit in einem wirtschaftlichen Zusammenhang:
Der Naturwissenschaftler Hertel hatte in Zeitschriften, die sich
an ein breites Publikum wandten, Beiträge publiziert, die vor der krebserzeugenden Wirkung von Mikrowellengeräten warnten. Der
Fachverband Elektroapparate für Haushalt und Gewerbe in der
Schweiz reichte in der Folge eine Unterlassungsklage gegen Hertel ein. Das Bundesgericht bestätigte auf Beschwerde von Hertel das Urteil des Handelsgerichts, wonach der Beitrag das
Bundesgesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb (UWG) verletzte.Hertel gelangte daraufhin an den EGMR, der
eine Verletzung von Hertels Meinungsäusserungsfreiheit (Art.
10 EMRK) feststellte. In seinem Revisionsentscheid hielt das Bundesgericht fest, dass es einen Unterschied mache, ob sich der Artikel an ein Fachpublikum richte, dem mögliche  Gegenargumente aus der Fachliteratur bekannt seien – oder an Laien, die Hertel als Experte über die unterschiedlichen in der Fachwelt vertretenen Ansichten auf das breite Meinungsspektrum in der Literatur hinweisen müsse. Ohne diesen Hinweis sei die Publikation unzulässig. Eine erneute Beschwerde von
Hertel gegen diesen Entscheid wurde vom EGMR als offensichtlich unbegründet abgewiesen, da
es ihm nun nicht mehr verwehrt sei, seine Meinung zu äussern, solange er auf abweichende Meinungen hinwiese.
Zunehmende Bedeutung erlangt die EMRK für Unternehmen im Zusammenhang mit Rechtsfragen um das Internet. Zunächst
hat der EGMR klargestellt, dass auch das Internet als Medium grundsätzlich in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK fällt.
Wichtige Weichen wurden vom Gerichtshof sodann bezüglich der Verantwortung von Unternehmen für auf von ihnen gehosteten Webseiten publizierte Kommentare gestellt.Schliesslich wird
die Frage, ob sich Unternehmen im Rahmen des Schutzes der Privatsphäre gemäss Art. 8 EMRK auch auf Elemente des
Datenschutzes berufen können, zunehmend diskutiert.
Diese ausgewählten Aspekte zeigen, dass die EMRK eine wichtige Rolle für die Ausübung unternehmerischer Tätigkeiten spielt. Würde die Schweiz die EMRK kündigen, stünde schweizerischen Wirtschaftsakteuren – natürlichen und juristi
schen Personen – der Weg nach Strassburg nicht mehr offen,
und sie könnten sich in wichtigen Fragen nicht mehr auf die Rechtsprechung des EGMR berufen. Bereits eine erste  Kurzbeurteilung zeigt, dass eine Kündigung der EMRK

zumindest bezüglich Verfahrensrechten, Meinungsfreiheit und Schutz der Privatsphäre mit Nachteilen für schweizerische Wirtschaftsakteure verbunden wäre. Schliesslich ist zu erwähnen, dass Schweizer Unternehmen vom menschenrechtlichen Schutz durch die EMRK nicht nur bei Aktivitäten in der Schweiz profitieren, sondern auch, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat der EMRK tätig sind und dieser Staat ihre Rechte gemäss EMRK einschränkt.

 

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